Wohin das Herz uns trägt
in einer Höhle, sie ist gefesselt und blutet. Sie hat Angst. Er denkt, er hört sie leise »Hilfe« sagen, dann ist sie weg. An ihrer Stelle sieht er einen blonden Jungen. Er streckt die Hand aus und ruft...
Mit einem Ruck erwachte Max, und einen Moment hatte er keine Ahnung, wo er war. Um sich herum blassrosa Wände, Rüschen ..., eine Sammlung von Glasfiguren auf einem Regal ..., Elfen und Zauberer ..., eine Vase mit Seidenrosen auf dem Nachttisch, daneben zwei leere Weingläser.
Trudi.
Sie lag neben ihm und schlief. Im Mondlicht sah ihr nackter Rücken fast schneeweiß aus. Er konnte nicht anders, er musste ihn berühren. Als sie seine Hand spürte, drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn an. »Gehst du?«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Er nickte.
Sie richtete sich auf, sodass über der rosa Decke ihre nackten Brüste zum Vorschein kamen. »Was ist los, Max? Du warst den ganzen Abend schon so ... so abgelenkt.«
»Das Mädchen«, antwortete er schlicht.
Sie streckte die Hand aus und fuhr mit ihrem langen Fingernagel behutsam über seinen Wangenknochen. »Das dachte ich mir schon. Ich weiß, wie sehr dir verletzte Kinder an die Nieren gehen.«
»Ich hab mir echt einen tollen Beruf ausgesucht, was?«
»Manchmal nimmt man sich etwas zu sehr zu Herzen.« Im schummrigen Licht glaubte er, Traurigkeit in ihrem Gesicht zu erkennen, war aber nicht ganz sicher. »Du kannst mit mir reden. Das weißt du hoffentlich.«
»Reden ist nicht das, worin wir am besten sind. Deshalb kommen wir so gut miteinander zurecht.«
»Wir kommen nur so gut miteinander zurecht, weil ich nicht verliebt sein möchte.«
Er lachte. »Aber ich?«
Sie lächelte vielsagend. »Bis dann, Max.«
Er küsste sie auf die Schulter und bückte sich dann, um seine Kleider vom Boden aufzuheben. Als er angezogen war, beugte er sich über sie, flüsterte »Tschüss« und ging.
Kurz darauf saß er auf seinem Motorrad und raste die schwarze, leere Straße hinunter. Fast wäre er auf den alten Highway abgebogen, da fiel ihm wieder ein, warum er Trudis Haus überhaupt verlassen hatte. Der Traum.
Seine Patientin.
Die arme Kleine, die ganz allein in ihrem Zimmer war.
Die meisten Kinder hatten Angst vor der Dunkelheit.
Kurz entschlossen machte er eine Kehrtwende und trat aufs Gaspedal. Beim Krankenhaus parkte er neben Penelope Nutters verbeultem rotem Pick-up und ging hinein.
Die Korridore waren leer und still, denn die Nachtschicht bestand nur aus wenigen Schwestern. Da die üblichen Geräusche fehlten, hörte er seine eigenen Schritte umso lauter. Vor der Schwesternstation machte er halt, um sich die Akte des Mädchens zu holen, »Hallo, Doktor«, begrüßte ihn die diensthabende Schwester. Sie klang etwa so müde, wie er sich fühlte.
Max lehnte sich an die Theke und lächelte. »Also, Janet, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen mich Max nennen?«
Sie kicherte und wurde rot. »Viel zu oft.«
Max tätschelte ihre rundliche Hand. Als er Janet vor Jahren kennengelernt hatte, waren ihm nur ihre falschen Wimpern und ihre hochtoupierten Haare aufgefallen. Aber wenn sie ihn jetzt anlächelte, sah er genau das Gute in ihr, an das die meisten Leute nicht glaubten. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf.«
Das mädchenhafte Kichern im Ohr, machte er sich auf den Weg zum alten Kindertagesraum. Dort spähte er durchs Fenster, in der Erwartung, das Mädchen zusammengerollt auf der Matratze zu sehen, schlafend in der Dunkelheit. Aber stattdessen brannte Licht, und auf einem winzigen Stuhl neben einem Resopaltisch in Kindergröße saß Julia. Auf dem Schoß hatte sie ein Notizbuch, auf dem Tisch stand ein Diktiergerät. Zwar konnte er nur ihr Profil sehen, doch sie schien vollkommen ruhig. Heiter und gelassen sogar.
Das Mädchen dagegen machte einen ziemlich aufgeregten Eindruck. Sie sauste im Zimmer herum und machte seltsame, immer gleiche Handbewegungen. Dann hielt sie plötzlich inne, wirbelte herum und konfrontierte Julia.
Julia sagte etwas, was Max durch das Glas nicht verstehen konnte.
Das Mädchen schnaubte, so heftig, dass ihr der Rotz aus der Nase kam, und schüttelte den Kopf. Als sie anfing, sich die Wange zu kratzen, in breiten, blutigen Striemen, war Julia wie der Blitz bei ihr und nahm sie in die Arme.
Die Kleine wehrte sich wie eine Katze, aber Julia hielt sie fest. Sie verloren das Gleichgewicht und taumelten auf die Matratze.
Doch Julia ließ nicht los, trotz Rotz und Kopfschütteln.
Und dann begann sie zu singen. Von
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