Wohin das Herz uns trägt
draußen erkannte Max es am veränderten Ton ihrer Stimme, an der Art, wie die Worte ineinander übergingen.
Er trat zur Tür und öffnete sie leise. Nur einen Spalt.
Sofort blickte das Mädchen zu ihm herüber und erstarrte vor Angst, schnaubte jedoch immer noch.
Unbeirrt sang Julia weiter.
Und Max stand da und lauschte, gebannt vom Klang ihrer Stimme.
Sie sang, hielt die Kleine fest und streichelte ihr über die Haare. Nicht ein einziges Mal sah sie zur Tür.
Minuten verstrichen. Ein Lied folgte dem anderen.
Stück für Stück schlossen sich die Augen des Kindes und öffneten sich ruckartig wieder.
Das arme Ding strengte sich furchtbar an, wach zu bleiben.
Julia sang weiter, Kinderlieder, Schlager, bekannte Musicals.
Endlich steckte das Mädchen den Daumen in den Mund, begann daran zu nuckeln und schlief ein.
Ganz sanft legte Julia sie ins Bett, deckte sie zu und ging zurück zum Tisch, um ihre Notizen zu holen.
Max wusste, dass er gehen sollte, bevor sie ihn bemerkte, aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Der Klang ihrer Stimme hatte ihn ebenso in den Bann geschlagen wie das blasse Mondlicht auf ihren Haaren und Schultern.
»Vermutlich bedeutet das, dass Sie gerne zuschauen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
Er hätte schwören können, dass sie keinen Blick zur Tür geworfen hatte, und doch wusste sie, dass er da war.
Zögernd trat er ins Zimmer. »Ihnen entgeht so leicht nichts, stimmt‘s?«
Als sie das letzte Blatt Papier in ihrer Mappe verstaut hatte, blickte sie auf. Im schwachen Licht war ihre Haut aschfahl, die Kratzer auf ihrer Wange dunkel und nicht zu übersehen. Auf ihrer Stirn war eine gelblich-blaue Beule. Aber es waren ihre Augen, die ihn faszinierten. »Mir entgeht eine ganze Menge.«
Ihre Stimme war so leise, dass er einen Moment brauchte, um zu verstehen, was sie sagte.
Mir entgeht eine Menge.
Mit Sicherheit meinte sie ihre Patientin, die jugendliche Amokläuferin, die in Silkwood das Massaker angerichtet und anschließend Selbstmord begangen hatte. Mit dieser Art von Schuldgefühlen kannte er sich aus. »Mir scheint, Sie könnten eine Tasse Kaffee vertragen.«
»Kaffee? Um ein Uhr morgens? Ich glaube eher nicht. Aber danke.« Damit schlängelte sie sich an ihm vorbei, hielt ihm die Tür auf und schloss sie hinter ihm wieder.
»Wie wäre es dann mit einem Stück Kuchen?«, fragte er, als sie den Korridor hinuntereilte. »Kuchen ist zu jeder Tageszeit das Richtige.«
Sie blieb stehen und drehte sich um. »Kuchen?«
Er ging auf sie zu und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich wusste doch, dass ich Sie in Versuchung führen kann.«
Sie lachte, und obwohl es müde und nicht ganz echt klang, machte es sein Lächeln breiter. »Der Kuchen stellt die Versuchung dar.«
Er ging voran in die Cafeteria und knipste das Licht an. Zu dieser stillen Nachtstunde war kein Mensch da, und auch die Theke war leer. »Nehmen Sie Platz.« Max schlüpfte an der Sandwichtheke vorbei in die Küche, wo er zwei Stück Brombeerkuchen fand und mit Vanilleeis garnierte. Dann kochte er zwei Tassen Kräutertee, trug das Tablett in den Speisesaal und stellte alles vor Julia auf den Tisch.
»Kamillentee. Damit Sie besser schlafen können«, sagte er, während er sich ihr gegenübersetzte. »Und Brombeerkuchen. Eine regionale Spezialität.« Er reichte ihr eine Gabel.
Mit einem leichten Stirnrunzeln starrte sie ihn an. »Danke«, sagte sie nach einer Weile.
»Gern geschehen.«
»Also, Dr. Cerrasin«, sagte sie nach einer weiteren langen Pause, »machen Sie es sich zur Gewohnheit, Ihre Kollegen zu einem frühmorgendlichen Kuchen in die Cafeteria zu locken?«
Er grinste. »Na ja, ich habe hier nicht sonderlich viele Kollegen. Und Doc Fischer hab ich offen gesagt schon seit einer Ewigkeit nicht mehr zum Kuchenessen eingeladen.«
»Was ist mit den Krankenschwestern?«
Der Ton ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen. Sie musterte ihn über den Rand ihrer hellbraunen Teetasse. Taxierte ihn. »Das klingt ja, als wollten Sie mich über mein Liebesleben ausfragen.« Er lächelte. »Ist das so, Julia?«
»Über Ihr Liebesleben?« Sie betonte den ersten Teil des Worts. »Haben Sie denn so was? Das würde mich überraschen.«
Er verzog das Gesicht. »Sie glauben tatsächlich, dass Sie mich durchschauen, ja?«
»Sagen wir mal, ich kenne Ihren Typ«, erwiderte sie und steckte eine Gabel Kuchen in den Mund.
»Nein, das sollten wir lieber nicht sagen. Mit wem Sie mich auch immer verwechseln
Weitere Kostenlose Bücher