Wohin das Herz uns trägt
Victor von Aveyron 1797 - waren zu Mediensensationen ihrer Zeit geworden. Wissenschaftler, Ärzte und Sprachforscher strömten herbei, in der Hoffnung, das Wilde Kind würde die elementarsten Fragen der menschlichen Natur beantworten.
Könige und Prinzessinnen brachten die Kinder als Kuriositäten und zur Unterhaltung an den Hof. Der jüngste Fall - ein Mädchen namens Genie, das nicht in der Wildnis, sondern in einem kalifornischen Vorort aufgewachsen und dort so systematischen und grässlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen war, dass es nicht sprechen, nicht gehen und auch nicht spielen konnte - war ein weiteres Beispiel für die Sensationsgier der Medien.
Die meisten dokumentierten Fälle hatten zwei Dinge gemeinsam. Erstens besaßen die Kinder die körperlichen Voraussetzungen, um zu sprechen, hatten die Sprache jedoch nicht umfassend erlernt. Zweitens fristeten fast alle früheren Wilden Kinder den Rest ihres Lebens in einem Heim, einsam und vergessen. Nur zwei Fälle, nämlich Memmie und ein Junge aus Uganda, den man 1991 in einer Affenhorde gefunden hatte, lernten sprechen und in der Gesellschaft zu funktionieren. Dennoch starb Memmie allein und völlig verarmt. Sie hatte ihren Mitmenschen nie erzählen können, was ihr in ihrer Jugend zugestoßen und wie sie in den Wald gekommen war.
Für Wissenschaftler und Ärzte stellten diese Kinder eine Herausforderung dar, zu der sie sich unwiderstehlich hingezogen fühlten. Sie wollten dieses menschliche Wesen, das so anders war als alle anderen, kennenlernen, wollten es verstehen - und retten. Sie hielten die Wilden Kinder für reiner und ursprünglicher als gewöhnliche Menschen, da sie unberührt waren von gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen. Und dennoch war einer nach dem anderen gescheitert. Warum? Weil ihnen ihre Patienten letztlich zu wenig am Herzen lagen.
Aber Julia würde diesen Fehler nicht begehen.
Sie würde nicht so handeln wie die Ärzte vor ihr, die ihren Schützlingen die Seele geraubt hatten, um die eigene Karriere voranzutreiben. Die irgendwann das Interesse verloren und sich von ihren stillen, zerbrochenen Patienten abgewandt hatten, die als Gefangene in irgendwelchen Institutionen zurückblieben, verwirrter und einsamer, als sie es je zuvor gewesen waren.
»Auf das Herz kommt es an, nicht wahr, Kleines?«, sagte sie, als sie wieder aufblickte. Vor ihren Augen landete ein zweiter Vogel auf dem Fensterbrett, gleich neben der ausgestreckten Hand des Mädchens, legte den Kopf schief und gab ein kleines Lied zum Besten.
Das Mädchen antwortete ihm mit einer perfekten Imitation.
Der Vogel schien zu lauschen, dann sang er wieder.
Und das Mädchen antwortete.
Julia warf einen Blick zu der Videokamera in der Ecke. Das rote Licht leuchtete. Die bizarre »Unterhaltung« wurde also aufgezeichnet.
»Sprichst du mit ihm?«, fragte Julia, während sie das Geschehen notierte. Natürlich war ihr bewusst, dass es in den Ohren anderer Menschen lächerlich klingen würde, aber sie sah es vor sich. Das Mädchen und der Vogel schienen einander zu verstehen. Zumindest war die Kleine eine begnadete Stimmenimitatorin.
Andererseits, wenn sie im Wald aufgewachsen war, allein oder in einem Tierrudel, würde sie nicht unbedingt die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier machen, wie es in unserer zivilisierten Welt selbstverständlich und üblich war.
»Kennst du überhaupt den Unterschied zwischen Mensch und Tier?« Sie klopfte mit dem Stift aufs Papier. Das leise Geräusch vertrieb den Vogel.
Julia griff nach den Büchern, die auf dem provisorischen Schreibtisch lagen. Es waren vier Kinderbuchklassiker: Der geheime Garten, Andersens Märchen, Alice im Wunderland, Der kleine Kuschelhase. Nur eine bescheidene Auswahl aus dem riesigen Stapel, den die großzügigen Bürger des Städtchens gespendet hatten. Heute Morgen, als das Mädchen noch schlief, hatte Julia ihm die Windel gewechselt und dann die Kisten nach etwas durchsucht, was ihr dabei helfen konnte, mit der Kleinen in Kontakt zu kommen. Sie hatte sich für Stifte und Papier, zwei alte Barbiepuppen in Diskokleidung entschieden - und für diese Bücher.
Jetzt schlug sie das oberste auf - Der geheime Garten - und begann laut vorzulesen: »Als Mary Lennox zu ihrem Onkel nach Misselthwaite Manor geschickt wurde, sagten alle, sie wäre das hässlichste Kind auf der ganzen Welt...«
Die nächste Stunde las Julia die wunderschöne Kindergeschichte laut vor, wobei sie sich Mühe gab, sanft und
Weitere Kostenlose Bücher