Wohin das Herz uns trägt
wahrscheinlich mit gebieterischer Stimme »Jetzt lies doch endlich!« gesagt. Aber die Kleine hier beobachtete nur.
Julia kehrte zu der Geschichte zurück. Sie las und las, von Mary und Dicken und Colin und dem geheimen Garten, der Marys Mutter gehört hatte. Sie las ein Kapitel nach dem anderen, bis sich vor dem Fenster in rosa und lila Streifen die Nacht herabsenkte. Als sie sich dem letzten Kapitel näherte, klopfte es an der Tür. Die Hunde schlugen an.
Sofort rannte das Mädchen zu seinem Schlupfwinkel und versteckte sich hinter den Topfpflanzen.
Langsam öffnete sich die Tür, und die beiden Hunde versuchten sich hereinzudrängeln. »Platz, Jake, Platz, Elwood! Was ist denn los mit euch?« Ellie schlängelte sich an ihnen vorbei und schubste die Tür mit der Hüfte wieder zu. Jämmerlich heulend blieben die Hunde auf dem Korridor zurück und kratzten an der Tür.
»Du musst sie echt besser erziehen«, sagte Julia und klappte das Buch zu.
Ellie stellte das Tablett mit Essen, das sie mitgebracht hatte, auf dem Tisch ab. »Ich dachte, wenn ich sie kastrieren lasse, werden sie lammfromm. Aber nichts dergleichen. Es muss wohl am Schwanz liegen.« Sie setzte sich auf das Fußende ihres alten Betts. »Wie geht es der Kleinen? Anscheinend hält sie mich immer noch für die böse Stationsschwester aus Einer flog über das Kuckucksnest.«
»Ich glaube, es geht ihr mittlerweile besser. Wie es aussieht, mag sie es, wenn ich ihr vorlese.«
»Hat sie versucht zu fliehen?«
»Nein. Sie traut sich nicht mal in die Nähe der Tür. Ich vermute, es liegt am Knauf. Glänzendes Metall bringt sie total aus der Fassung.«
Ellie beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf die Schenkel. »Ich wollte, ich hätte auch Fortschritte vorzuweisen.«
»Hast du doch. Die Geschichte macht Schlagzeilen. Bestimmt wird sich bald jemand melden.«
»Es melden sich jetzt schon eine ganze Menge. Heute hatte ich sechsundzwanzig Leute bei mir im Büro. Alle haben in den letzten Jahren eine Tochter verloren. Ihre Geschichte ..., die Fotos ..., es war schrecklich.«
»Ja, es ist unglaublich schwer, wenn man mit so viel Kummer konfrontiert wird.«
»Wie schaffst du das bloß? Ich meine, dir den ganzen Tag traurige Geschichten anzuhören?«
So hatte Julia ihren Beruf noch nie betrachtet. »Eine Geschichte ist nur dann traurig, wenn sie kein Happyend hat. Ich schätze mal, daran glaube ich immer.«
»Eine verkappte Romantikerin! Wer hätte das gedacht?«
Julia lachte. »Nein, ich würde mich nicht gerade als romantisch bezeichnen! Wie war die Pressekonferenz?«
»Lang. Öde. Jede Menge blöde Fragen. Und die überregionalen Sender sind genauso schlimm. Eines habe ich inzwischen jedenfalls kapiert: Wenn eine Frage zu lachhaft ist für eine Antwort, dann wird ein Reporter sie garantiert ein weiteres Mal stellen. Mein persönlicher Favorit stammt vom National Enquirer. Da hat man gehofft, das Mädchen hätte Flügel anstelle von Armen. Ach ja, und bei The Star fragt man sich, ob sie vielleicht in einem Wolfsrudel gelebt hat.«
Zum Glück waren beides Boulevardblättchen, denen würde sowieso niemand glauben. »Wie weit seid ihr mit der Identifizierung?«
»Noch nichts. Aber durch die Röntgenaufnahmen, die Muttermale, die Narben und die Altersangabe konnten wir die Möglichkeiten schon deutlich eingrenzen. Ach ja, von der Fürsorge ist übrigens die Genehmigung für dich gekommen. Du bist jetzt offiziell die temporäre Pflegemutter der Kleinen.«
In diesem Moment merkten sie, dass das Mädchen langsam aus seinem Versteck gekrochen kam. Mit geblähten Nasenflügeln hielt sie inne, schnupperte in die Luft und sauste dann plötzlich tief geduckt durchs Zimmer. Noch nie hatte Julia ein Kind gesehen, das sich so schnell bewegen konnte. Die Kleine verschwand im Badezimmer.
Ellie stieß einen Pfiff aus. »Das hat Daisy also gemeint, als sie gesagt hat, das Mädchen ist schnell wie der Wind.«
Behutsam näherte sich Julia dem Bad.
Ellie folgte ihr.
Das Mädchen saß auf der Toilette. Die Höschenwindel für Kleinkinder, die sie ihr angezogen hatte, hing ihr lose um die Knöchel.
»Herr im Himmel«, flüsterte Ellie. »Hast du ihr das beigebracht?«
Julia konnte es selbst kaum glauben. »Sie ist heute zu mir reingekommen, als ich gerade auf dem Klo war. Aber die Spülung hat sie zu Tode erschreckt. Ich hätte geschworen, dass sie noch nie eine Toilette gesehen hat.«
»Meinst du, sie hat es sich selbst beigebracht? Nachdem sie dir
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