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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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gesagt. Nächstes Jahr ...«
    Dr. Stern legte die Hand auf ihren Arm. »Und dann ... das.« Er nahm Ellie das Foto wieder ab und starrte darauf. Tränen traten ihm in die Augen. Schließlich blickte er wieder auf. »Haben Sie Kinder, Chief Barton?«
    »Nein.«
    Eigentlich hatte sie erwartet, er würde etwas dazu sagen, aber stattdessen half er wortlos seiner Frau beim Aufstehen.
    »Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Chief.«
    »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal.
    »Ich weiß«, erwiderte er, und auf einmal wurde Ellie bewusst, wie geschwächt er war, wie sehr er sich bemühte, Haltung zu bewahren. Er nahm den Arm seiner Frau, geleitete sie zur Tür, dann waren die beiden verschwunden.
    Einen Augenblick später kam der nächste Mann herein. Er trug einen ramponierten verwaschenen Overall und ein Flanellhemd und hatte eine Baseballkappe mit dem Logo der Stihl-Kettensägen tief in die Stirn gezogen. Die untere Hälfte seines Gesichts verschwand unter einem grauen Bart. Auch er hielt ein Foto an die Brust gepresst.
    Das Foto eines blonden Cheerleader-Mädchens, das sah Ellie schon von fern.
    »Chief Barton?«, sagte er mit hoffnungsvoller Stimme. »Ja, das bin ich«, antwortete sie. »Bitte, nehmen Sie doch Platz ...«

Kapitel 10
    In der vergangenen Nacht hatte Julia ihr Mädchenschlafzimmer in eine Sicherheitszone für sich und ihre kleine Patientin verwandelt. Noch immer standen die beiden Betten an der linken Wand, aber sie hatte alles Mögliche daruntergestopft, damit sich das Mädchen dort nicht verstecken konnte. In der Ecke beim Fenster hatte sie fast ein Dutzend großer Topfpflanzen aufgestellt, die eine Art Miniaturwäldchen bildeten. Ein langer Resopaltisch mit zwei Stühlen nahm die Mitte des Raums ein und diente als Schreibtisch und Lernbereich. Nun fiel ihr allerdings noch etwas ein, was sie vergessen hatte, nämlich ein gemütlicher Sessel.
    Die letzten sechs Stunden hatte das Mädchen mit ausgestreckten Armen an dem vergitterten, offenen Fenster zugebracht. Ob es regnete oder die Sonne schien, sie ließ die Arme draußen. Um die Mittagszeit hatte sich ein Rotkehlchen auf dem Fensterbrett niedergelassen, und jetzt, im blassgrauen Sonnenlicht, das den Regen der vorangegangenen Stunde abgelöst hatte, landete ein bunter Schmetterling auf ihrer ausgestreckten Hand, blieb flatternd einen Atemzug lang dort sitzen und flog dann weiter.
    Wenn Julia es nicht aufgeschrieben hätte, wäre es ihr schwergefallen zu glauben, dass sie es wirklich gesehen hatte. Immerhin war es Herbst, also kaum die Jahreszeit für Schmetterlinge, und selbst im warmen Sommer landeten sie äußerst selten auf der Hand eines kleinen Mädchens, nicht mal für einen kurzen Moment.
    Aber sie hatte es aufgeschrieben, eine Aktennotiz gemacht, und da stand es jetzt. Eine Tatsache, die in Betracht gezogen werden musste, eine weitere Auffälligkeit.
    Vielleicht war es die Reglosigkeit des Mädchens. Sie hatte sich seit Stunden nicht gerührt.
    Keine Verlagerung des Gewichts, kein Wechsel der Armhaltung, keine Drehung des Kopfes. Keine wiederkehrenden monotonen oder zwanghaften Bewegungsabläufe, nein, sie war einfach still, wie ein Chamäleon. Die Sozialarbeitern, die am Morgen gekommen war, um festzustellen, ob Julia als temporäre Pflegemutter geeignet war, hatte schockiert reagiert, es aber zu verbergen versucht. Als sie ihr Notizbuch zuklappte, hatte sie noch einen letzten besorgten Blick auf das Mädchen geworfen und Julia zugeflüstert: »Sind Sie sicher?«
    »Ja, ich bin ganz sicher«, hatte Julia geantwortet. Und das stimmte auch. Diesem Kind zu helfen war zu ihrer ganz persönlichen Aufgabe geworden.
    Nachdem sie gestern Abend das Zimmer hergerichtet hatte, war sie noch lange aufgeblieben, hatte am Küchentisch gesessen, sich Notizen gemacht und alles gelesen, was sie über Wilde Kinder finden konnte. Ein zugleich faszinierendes und herzzerreißendes Thema.
    Die Fälle folgten alle einem bestimmten Muster, ganz gleich ob sie sich vor dreihundert Jahren in den dichten Wäldern oder in diesem Jahrhundert in der afrikanischen Wildnis ereignet hatten. Alle diese Kinder waren - meist von Jägern - in tiefen, dunklen Wäldern entdeckt worden. Mehr als ein Drittel der Kinder bewegte sich nur auf allen vieren vorwärts. Kaum eines konnte sprechen. Einige von ihnen darunter beispielsweise Peter, der Wilde Junge von 1726, Memmie, das sogenannte Wilde Mädchen aus Frankreich, und der wahrscheinlich bekannteste Wolfsjunge

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