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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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ein einziges Mal zugesehen hat?«
    Julia antwortete nicht. Jedes Geräusch konnte den Augenblick kaputtmachen. Ganz vorsichtig, Schritt für Schritt, ging sie zum Klo, riss ein paar Blätter Toilettenpapier ab, zeigte dem Mädchen, was man damit machte, und reichte sie ihr dann. Lange betrachtete die Kleine das zusammengeknäulte Papier mit gerunzelter Stirn. Aber schließlich nahm sie es und benutzte es wie angewiesen. Als sie fertig war, rutschte sie vom Klositz herunter, zog die Windelhose hoch und drückte auf den mit Klebeband verkleideten Hebel der Spülung. Als das Rauschen einsetzte, stieß sie einen Schrei aus und rannte weg, zwischen Julias und Ellies Beinen hindurch.
    »Du meine Güte!«, staunte Ellie.
    Beeindruckt starrten sie auf das Mädchen, das sich wieder im Wald der Topfpflanzen versteckt hatte.
    In der Stille, die im Raum eingekehrt war, hörte man die Kleine laut und schnell atmen.
    »Die Geschichte wird echt immer seltsamer«, stellte Ellie fest.
    Julia widersprach ihr nicht.
    »Also«, meinte Ellie schließlich. »Ich muss wieder zurück ins Büro. Ich weiß nicht, wann ich heimkomme.« Sie zog einen Zettel aus der Gesäßtasche und gab ihn Julia. »Das sind Peanuts und Cals Privatnummern. Ruf sie an, wenn du mal wieder in die Bibliothek musst, dann passen sie hier so lange für dich auf die Kleine auf.«
    »Danke.«
    Julia verabschiedete sich von ihrer Schwester, ließ sie hinaus, machte sich aber nicht die Mühe, die Tür zu verriegeln. Bisher schien das Mädchen immer noch Angst vor dem Türknauf zu haben.
    Dann ging sie zurück an den Tisch, machte sich noch ein paar Notizen und legte Stift und Papier anschließend beiseite.
    »Zeit fürs Abendessen.«
    Das Mädchen blieb zwischen den Pflanzen hocken und beobachtete Julia.
    »Essen.« Julia klopfte auf das Tablett, das Ellie dagelassen hatte.
    Und tatsächlich kam Bewegung in die Kleine. Sie kroch hinter den grünen Blättern hervor und wollte sich auf ihre gewohnte Weise über das Essen hermachen.
    Aber Julia packte sie am Handgelenk. »Nein.«
    Ihre Blicke trafen sich.
    »Dafür bist du zu klug, oder?« Julia stand auf, ohne das vogelartig magere Handgelenk loszulassen, und ging um das Mädchen herum, bis sie nebeneinander standen. »Setz dich.« Dabei zog sie einen Stuhl heraus und klopfte auf den Sitz. »Setz dich.«
    Die nächste halbe Stunde blieben sie stehen, in einen Kampf verwickelt, dessen Text zwei Worte umfasste.
    Setz dich.
    Zuerst heulte und schnaubte das Mädchen, schüttelte den Kopf und versuchte sich loszureißen.
    Doch Julia hielt sie einfach fest, schüttelte ebenfalls den Kopf und wiederholte stur: »Setz dich.«
    Als das übliche Theater nichts half, beruhigte sich das Mädchen allmählich. Regungslos starrte sie Julia an, mit zusammengekniffenen, wütenden Augen.
    »Setz dich«, sagte Julia unbeirrt und klopfte auf den Stuhl.
    Schließlich stieß das Mädchen einen dramatischen Seufzer aus und setzte sich hin.
    Sofort ließ Julia sie los. »Gut gemacht.« Dann wischte sie die Hände des Mädchens mit ein paar Feuchttüchern ab, ging auf die andere Seite des Tischs und ließ sich ebenfalls nieder.
    Das Mädchen fiel über das Essen her wie über frisch erlegte Beute.
    »Immerhin sitzt du am Tisch«, sagte Julia. »Das ist schon mal ein Anfang. An deinen Manieren arbeiten wir morgen. Nachdem du gebadet hast.« Sie griff nach ihrem Notizbuch, legte es auf den Schoß und blätterte darin, während das Mädchen aß. Vielleicht gab es hier eine Antwort. Aber sie bezweifelte es. In diesem Fall gab es in erster Linie Fragen.
    Doch da fiel ihr ein Absatz ins Auge, den sie nachmittags geschrieben hatte.
    Die Kleine ist eine perfekte Stimmenimitatorin und kann Ton für Ton ein Vogellied nachsingen. Es scheint fast so, als würde sie mit dem Vogel kommunizieren, obgleich das ja wahrscheinlich unmöglich ist.
    »Ist das die Antwort, Kleines? Hast du gesehen, wie ich die Toilette benutzt habe, und mich einfach nachgemacht? War das eine Fähigkeit, die du in der Wildnis lernen musstest? Imitieren?«
    Sie schrieb: Wenn keine Menschen um uns herum sind, keine Gesellschaft, wie lernen wir dann durch Versuch und Irrtum? Durch Nachahmung anderer Spezies? Vielleicht hat dieses Mädchen gelernt, zu beobachten und nachzuahmen.
    Sie ließ den Stift sinken.
    Das fühlte sich höchstens wie eine halbe Antwort an. Ein Kind, das in der Wildnis aufgewachsen war, in einem Wolfsrudel oder in Gesellschaft anderer Tiere, hätte gelernt, sein

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