Wohin das Herz uns trägt
genau, wo das Problem lag. Inzwischen hatte er zweieinhalb Jahre voll für sie gearbeitet, davor war er Vater und Hausmann gewesen. Seine Frau Lisa war Handelsvertreterin für eine Firma in New York und mehr unterwegs als zu Hause. Als die Kinder in der Schule waren, hatte er den Job in der polizeilichen Telefonzentrale angenommen, um die leeren Stunden zu füllen, wenn sie nicht da waren. Allerdings hatte er den Tag über hauptsächlich Comics gelesen und Actionfiguren auf seinen Skizzenblock gezeichnet. Er war ein guter Telefonist, solange es um nichts Größeres ging als beispielsweise um eine Katze, die auf einem Baum festsaß. Aber die letzten Tage waren wirklich anstrengend gewesen. Schlagartig wurde Ellie klar, wie sehr sie sein Lächeln vermisste. »Ich sag dir was, Cal. Ich übernehme die Pressekonferenz. Und du kannst nach Hause gehen.«
Augenblicklich erschien ein bemitleidenswert hoffnungsvoller Ausdruck auf seinem Gesicht. »Aber du brauchst doch jemanden, der die Notrufe entgegennimmt«, wandte er trotzdem ein.
»Wir lassen sie einfach ins Amt umleiten. Wenn es was Wichtiges ist, rufen die mich per Funk. Es wären sowieso nur die Notrufe.«
»Bist du sicher? Nach Emilys Fußballspiel kann ich zurückkommen.«
»Das wäre toll.«
»Danke, Ellie.« Endlich grinste er und sah gleich wieder aus wie ein Siebzehnjähriger. »Tut mir leid, dass ich heute Morgen so unfreundlich war.«
»Schon gut, Cal. Manchmal muss man seine Meinung deutlich machen.« Das hatte ihr Vater immer gesagt, wenn er mal wieder mit der Faust auf den Küchentisch geschlagen hatte.
Cal schnappte sich seinen Polizei-Regenmantel von dem Hirschgeweih, das ihm als Garderobenhaken diente, und verließ das Revier.
Ellie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und setzte sich. Linkerhand lag ein mindestens fünf Zentimeter hoher Stapel Faxe. Jedes verkörperte ein verlorenes Kind, eine trauernde Familie. Sie hatte sie sorgfältig gelesen, die Ähnlichkeiten und Unterschiede markiert. Sobald die Pressekonferenz überstanden war, würde sie anfangen, die verschiedenen Agenturen und Ämter zurückzurufen. Garantiert würde sie die Nacht am Telefon verbringen.
»Du hast schon wieder diesen abwesenden Blick«. stellte Peanut fest, während sie ihre Suppe schlürfte.
»Ich denke bloß nach.«
Peanut stellte ihren Becher weg. »Du kriegst das hin, glaub mir. Du bist eine großartige Polizistin.«
Am liebsten hätte Ellie ihr aus tiefstem Herzen beigepflichtet, und an jedem anderen Tag hätte sie es auch vorbehaltlos getan. Aber heute konnte sie nicht umhin, zu dem kleinen Stapel mit »Beweisen« zu blicken, die sie bisher über die Identität des Mädchens gesammelt hatten. Vier Fotos - von vorn, im Profil, zwei Ganzkörperaufnahmen. Auf allen war das Mädchen so stark sediert, dass es aussah wie tot. Unter den Fotos eine Liste der Narben des Mädchens, Leberflecken und natürlich das Muttermal auf dem Schulterblatt. Auf dem Foto, das die Liste ergänzte, sah es einer Libelle bemerkenswert ähnlich. Außerdem waren da die Röntgenaufnahmen; Max schätzte, dass das Mädchen noch ganz klein gewesen war, als es sich den linken Arm gebrochen hatte, und dass die Knochen ohne angemessene medizinische Behandlung zusammengewachsen waren. Jede Verletzung, Narbe und alle Leberflecken und Muttermale waren auf einem Diagramm ihres Körpers verzeichnet. Während das Mädchen bewusstlos war, hatte man ihm auch Fingerabdrücke und Blut abgenommen - es hatte Blutgruppe AB - und eine Röntgenaufnahme seiner Zähne gemacht. Das Blut war zu einer DNA-Analyse ins Labor geschickt worden, aber noch nicht wieder zurückgekommen. Auch das Kleid, das es getragen hatte, wurde derzeit untersucht.
Jetzt konnten sie nur noch warten. Und beten, dass sich jemand meldete, der das Mädchen identifizieren konnte. »Ich weiß nicht, Pea. Das ist wirklich eine harte Nuss.«
»Aber du bist ihr gewachsen.«
Ellie lächelte ihre Freundin an. »Weißt du eigentlich, was die beste Entscheidung war, die ich je in diesem Job getroffen habe?«
»Das Programm ›Bring einen Betrunkenen nach Hause‹?«
»Knapp daneben. Nein, meine beste Entscheidung war, dich einzustellen, Penelope Nutter.«
»Ja, jeder Star braucht einen guten Kumpel«, grinste sie. Lachend machte Ellie sich wieder an die Arbeit. Wenig später klopfte es an die Tür. Peanut blickte auf. »Wer klopft denn bei der Polizei an?«
Ellie zuckte die Achseln. »Bestimmt kein Reporter. Herein«, sagte sie laut. Vor der
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