Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
Vom Netzwerk:
melodisch zu sprechen. Ihr war ganz klar, dass ihre kleine Patientin die meisten Worte nicht kannte und daher auch der Geschichte nicht wirklich folgen konnte, doch wie alle Kinder, die nicht sprechen konnten, schien dem Mädchen trotzdem der Klang zu gefallen.
    Am Ende eines Kapitels klappte Julia das Buch leise zu. »Hier mache ich mal eine kleine Pause. Aber ich komme gleich zurück. Zurück«, wiederholte sie für den Fall, dass der Kleinen das Wort vertraut vorkam.
    Langsam stand sie auf und streckte sich. Sie hatte den Plastiktisch ans Fußende ihres Mädchenbetts geschoben, was allerdings zur Folge hatte, dass sie auf ihrem ohnehin nicht sehr bequemen Stuhl recht beengt sitzen musste und sich auf die Dauer leicht einen steifen Hals holte. Ihren Stift nahm sie mit - er konnte schließlich als Waffe benutzt werden - und ging zum Bad, das vor vielen Jahren für sie und Ellie eingerichtet worden war. Man erreichte es durch die Tür neben der Kommode.
    Sie ging hinein und schloss die Tür so weit, dass sie sich einigermaßen ungestört fühlte, das Mädchen ihre Stimme aber weiterhin hören konnte. Langsam zog sie die Hose herunter, setzte sich auf die Toilette und sagte: »Ich gehe nur schnell aufs Klo, Schätzchen. Bin gleich zurück. Ich möchte nämlich auch gern wissen, was mit Mary passiert. Glaubst du, sie hört wirklich jemanden weinen? Weinst du auch manchmal? Weißt du, was ...«
    Sie unterbrach sich, denn in diesem Moment erschien das Mädchen im Türrahmen, bremste ungeschickt ab und schubste die Tür dabei so heftig weg, dass diese gegen die Wand knallte. Offensichtlich erschreckte sie sich furchtbar, denn sie fuhr zurück und begann sofort wieder, sich auf die Wangen zu schlagen, den Kopf zu schütteln und zu schnauben.
    »Du bist nur erschrocken«, sagte Julia besänftigend. »Du hast einen Schreck gekriegt, und jetzt ärgerst du dich. Hast du gedacht, ich gehe weg?«
    Beim Klang von Julias Stimme beruhigte sich das Mädchen erstaunlich rasch. Aber sie sah immer noch nervös zur Tür, während sie sich langsam von ihr entfernte.
    »Dann lassen wir die Tür eben von nun an offen. Aber ich muss wirklich aufs Klo. Kennst du das Wort? Klo?«
    Hatte sie das Wort erkannt? Oder doch eher nicht?
    Das Mädchen stand da und beobachtete Julia.
    »Ich muss mal einen Moment alleine sein. Du könntest ... ach, was soll‘s ...« Die ganzen sozialen Verhaltensregeln spielten hier und jetzt ohnehin keine Rolle!
    Die Kleine runzelte die Stirn und kam einen Schritt näher, den Kopf schief gelegt wie vorhin der Vogel, als bemühte sie sich, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
    »Ich pinkle«, erklärte Julia sachlich und griff nach dem Klopapier.
    Das Mädchen beobachtete sie, aufs Äußerste konzentriert und wieder vollkommen reglos.
    Als Julia fertig war, zog sie die Hose hoch und betätigte die Spülung.
    Entsetzt schrie das Mädchen auf und wollte weglaufen, aber sie stolperte und fiel hin. Alle viere von sich gestreckt, blieb sie auf dem Boden liegen und heulte.
    »Es ist okay«, sagte Julia. »Hab keine Angst. Du brauchst keine Angst zu haben. Das versprech ich dir.« Sie ließ die Spülung immer wieder rauschen, bis das Kind sich schließlich aufsetzte. Dann wusch sich Julia die Hände und ging langsam auf ihre kleine Patientin zu. »Möchtest du, dass ich weiter vorlese?« Sie kniete sich auf den Boden, sodass sie auf einer Augenhöhe mit dem Mädchen war, und sehr nah. Sie sah in die blaugrünen Augen der Kleinen. Die Iris hatte bernsteinfarbene Sprenkel, die dichten schwarzen Wimpern senkten sich langsam und öffneten sich wieder.
    »Buch«, wiederholte Julia und deutete zu der Geschichte auf dem Tisch.
    Das Mädchen ging zum Tisch und ließ sich daneben auf den Boden nieder.
    Julia holte tief Luft, reagierte aber sonst nicht, sondern ging zum nächsten Stuhl und setzte sich. »Ich finde, Ellie und ich sollten Moms altes Sofa hier reinstellen. Was meinst du dazu?«
    Das Mädchen kam ein bisschen näher heran. Im Schneidersitz saß sie da und sah zu Julia empor.
    In diesem Augenblick war sie trotz ihres verschmierten Gesichts und trotz der verfilzten Haare nicht von einem ganz normalen Vorschulkind in der Vorlesestunde zu unterscheiden.
    »Ich wette, du wartest darauf, dass ich anfange.«
    Wie immer bekam sie als Antwort nur Schweigen. Die unheimlichen blaugrünen Augen starrten sie an. Diesmal vielleicht mit einer Spur von Erwartung, womöglich sogar Ungeduld. Ein gewöhnliches Kind hätte

Weitere Kostenlose Bücher