Wohin das Herz uns trägt
Tür stand ein Paar und spähte schüchtern herein. »Sind Sie Chief Barton?«
Die beiden waren ganz sicher keine Reporter: ein großer, weißhaariger Mann, so schlank, dass er schon fast ausgemergelt wirkte. Er trug einen hellgrauen Kaschmirpullover und eine schwarze Hose mit messerscharfen Bügelfalten. Und Großstadtschuhe. Die Frau war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Schwarzes Mantelkleid, schwarze Strumpfhose, schwarze Pumps. Ihre Haare, in einem teuren Dreierlei von Blondtönen, waren streng aus dem bleichen Gesicht gekämmt und zur Banane hochgesteckt.
Ellie stand auf. »Kommen Sie doch herein.«
Der Mann berührte den Ellbogen der Frau und führte sie zu Ellies Schreibtisch. »Chief Barton, ich bin Dr. Isaac Stern. Das ist meine Frau Barbara.«
Ellie schüttelte den beiden die Hände, wobei ihr auffiel, wie kalt sie waren. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ein Windstoß riss die Tür auf und knallte sie heftig gegen die Wand.
»Entschuldigen Sie.« Ellie schloss die Tür. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin hier wegen meiner Tochter Ruthie«, antwortete Dr. Stern. »Wegen unserer Tochter«, verbesserte er sich und sah seine Frau an. »Sie ist 1996 verschwunden. Es sind eine Menge Leute mit uns hergekommen. Alles Eltern vermisster Kinder.«
Ellie machte die Tür wieder auf und warf einen Blick nach draußen. Auf der Straße standen immer noch die Reporter, unterhielten sich in kleinen Gruppen miteinander und warteten auf die bevorstehende Pressekonferenz. Aber jetzt interessierte Ellie sich viel mehr für die Menschenschlange, die sich vor der Tür gebildet hatte.
Eltern.
Bestimmt an die hundert Menschen.
»Bitte«, sagte ein Mann auf der Treppe. »Sie haben uns zusammen mit den Presseleuten rausgeschmissen, aber wir müssen mit Ihnen reden. Ein paar von uns haben eine lange Anreise hinter sich.«
»Natürlich rede ich mit Ihnen«, sagte Ellie. »Aber einer nach dem anderen. Sagen Sie das bitte weiter. Wenn nötig, bleiben wir die ganze Nacht hier.«
So sacht sie konnte, schloss sie die Tür wieder. Dann wappnete sie sich innerlich und ging zurück an ihren Schreibtisch.
»Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte sie und deutete auf die beiden Stühle vor dem Tisch.
»Penelope«, wandte sie sich dann an ihre Freundin, »du kannst dich ruhig auch um die Leute kümmern. Name, Telefon, alles was an Infos aufzunehmen ist.«
»Geht klar, Chief«, rief Peanut und ging sofort zur Tür.
»Nun«, sagte Ellie und beugte sich vor. »Erzählen Sie mir doch bitte von Ihrer Tochter.«
Unermesslicher Kummer starrte ihr entgegen, nicht zu übersehen, wie Blut im Schnee.
Dr. Stern fand als Erster seine Stimme. »Unsere Ruthie ist eines Morgens zur Schule gegangen, doch sie ist nie dort angekommen. Sie liegt nur zwei Häuserblocks von uns entfernt. Ich habe schon den Polizisten angerufen, der uns in dieser Sache geholfen hat, aber er hat mir gesagt, dass das Mädchen, das Sie gefunden haben, nicht meine - unsere Ruthie sein kann. Ich hab ihm gesagt, dass man bei uns an Wunder glaubt, deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.« Er griff in die Tasche und holte ein kleines, abgegriffenes Foto heraus. Darauf war ein hübsches kleines Mädchen mit hellbraunen Locken zu sehen, das eine pinkfarbene Power-Rangers-Frühstücksdose im Arm hielt. In der Ecke stand das Datum: 7. September 1996.
Heute wäre Ruthie also dreizehn oder vierzehn.
Ellie holte tief Luft. Unmöglich, die Reihe der hoffnungsvollen Eltern vor der Tür zu vergessen, die alle auf ein Wunder warteten. Es würde der längste Tag ihres Lebens werden. Schon jetzt hätte sie am liebsten geheult.
Sie nahm das Foto und fuhr vorsichtig mit dem Finger darüber. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Mrs Stern weinte. »Welche Blutgruppe hat Ruthie?«
»Null«, antwortete Mrs Stern, wischte sich die Augen und wartete.
»Es tut mir leid«, sagte Ellie. »Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
Unterdessen hatte Peanut die Tür geöffnet und ein weiteres Paar hereingelassen, das nun vor ihrem Schreibtisch stand, ein Farbfoto an die Brust gedrückt.
Bitte, lieber Gott , betete Ellie im Stillen und schloss für einen Moment, einen Herzschlag lang, die Augen. Bitte gib mir Kraft, sonst steh ich das nicht durch.
Unvermittelt begann Mrs Stern zu erzählen. »Pferde«, verkündete sie mit kehliger Stimme. »Sie hat Pferde geliebt, unsere Ruthie. Wir dachten, sie wäre noch nicht alt genug, um Reitunterricht zu nehmen. Nächstes Jahr, haben wir immer
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