Wohin das Herz uns trägt
allerwichtigsten , hatte Julia gesagt. Du kannst mir sagen, was du gerade fühlst.
Julia schloss die Augen. Die Erinnerung gehörte zu denen, die sie richtiggehend körperlich schmerzten. Die Sitzung hatte zwei Tage vor Ambers Amoklauf stattgefunden. Warum hatte sie nicht ...
Stopp.
Sie weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Er führte nur ins Dunkel, in die abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit. Wenn sie sich dorthin begab, würde sie womöglich nicht mehr zurückkommen können, und Alice brauchte sie. Vielleicht mehr, als irgendjemand sie je zuvor gebraucht hatte. »Wie ich gesagt habe ...«
Alice berührte sie. Zu Beginn war es wie ein Hauch, eine zögernde Bewegung wie von einem Schmetterlingsflügel. Julia sah es mehr, als dass sie etwas spürte.
»Das ist gut, Schätzchen«, flüsterte sie. »Trau dich in unsere Welt. Es war einsam in deiner Welt, oder nicht? Beängstigend.«
Nichts rührte sich außer der Hand. Ganz langsam streckte Alice sie aus und tätschelte ungeschickt, mit einer fast spastischen Bewegung Julias Oberschenkel.
»Manchmal macht es einem Angst, einen anderen Menschen zu berühren«, sagte Julia und überlegte dabei, ob ihre Worte wohl verstanden wurden. »Vor allem wenn man verletzt worden ist. Dann fürchtet man sich davor, die Hand nach jemandem auszustrecken.«
Die Bewegungen wurden geschmeidiger und schließlich zu einem sanften Streicheln. Dazu brachte Alice einen Laut hervor, tief aus der Kehle, wie ein Schnurren. Langsam hob sie das Kinn und sah zu Julia empor, die faszinierenden blaugrünen Augen voller Furcht und Sorge.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Julia und hörte das leise Zittern in ihrer Stimme. Gefühle drohten sie zu übermannen, und das war gefährlich. Wenn man eine gute Therapeutin sein wollte, musste man sich verhalten, als würde man mit vierzig - und schon leicht weitsichtig - einen Roman lesen: Man musste die Seiten eine Armlänge von sich weg halten, sonst verschwamm alles. Sanft strich sie über Alices seidige schwarze Haarmähne. »Keine Angst.«
Es dauerte eine Weile, doch irgendwann hörte Alice auf zu zittern. Den Rest des Vormittags las und redete Julia abwechselnd. Zum Mittagessen gingen sie gemeinsam an den Tisch, aber sofort danach kehrte Alice zum Bett zurück und schlug mit der Handfläche auf das Buch.
Julia räumte das Geschirr weg, kam auch wieder aufs Bett und las weiter. Gegen zwei hatte Alice sich noch enger zusammengerollt und war eingeschlafen.
Vorsichtig stand Julia auf und starrte hinunter auf das seltsame Mädchen, das sie Alice nannte.
In den letzten zwei Tagen hatten sie so viele bahnbrechende Fortschritte gemacht, aber vielleicht enthielt keiner davon so viel Potenzial wie der Traumfänger.
Alice hatte so heftig auf ihn reagiert, er musste irgendeine wichtige Bedeutung für sie besitzen.
Jetzt war es Julias Aufgabe, Alice die Angst vor dem Traumfänger zu nehmen und sie gleichzeitig zu erforschen. Natürlich ohne Alice so zu ängstigen, dass sie sich selbst verletzte. Momentan war das ihre beste Chance - denn der Traumfänger war das einzige Objekt, das bisher eine starke emotionale Reaktion hervorgerufen hatte. Es gab keine andere Alternative, sie musste ihn einsetzen.
»Kannst du weinen, Alice? Kannst du lachen? Du bist in deinem Innern gefangen, nicht wahr? Aber warum?« Julia ging zurück zu ihren Notizen und schrieb alles auf, was seit dem Frühstück geschehen war. Dann las sie sich das Geschriebene noch einmal durch:
Heftige Reaktion auf Traumfänger. Extremer Ausbruch von Wut und/oder Angst. Typischerweise sind die Gefühle der Patientin vollständig nach innen gerichtet. Sie weiß nicht, wie sie ihre Gefühle gegenüber anderen zum Ausdruck bringen soll. Vielleicht aufgrund des selektiven Mutismus. Vielleicht wurde es ihr auch so antrainiert. Hat jemand - oder etwas - ihr beigebracht, immer still zu sein? Wurde sie misshandelt, wenn sie sich frei geäußert hat? Oder wenn sie überhaupt nur gesprochen hat? Ist sie als Gefühlsausdruck nur Kratzen und Haareraufen gewohnt? Drücken Rudeltiere so ihre Emotionen aus, wenn sie außer Sicht sind? Ist es ein Symptom von Wildheit? Von Isolation? Oder von Missbrauch f
Irgendeine Erkenntnis dämmerte am Rand ihres Bewusstseins, zeigte sich kurz, verschwand aber jedes Mal so rasch wieder, dass sie nicht wirklich sichtbar wurde.
Julia legte den Stift weg und stand wieder auf. Ein schneller Blick zur Videokamera zeigte, dass sie noch aufnahm. Also konnte sie
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