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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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hat sie so etwas gesehen. Sie möchte die Sachen anfassen, schmecken, riechen.
    Sonnenhaar holt einen von den spitzen Stöckchen heraus und berührt damit das Buch mit den Linien. Dort, wo sie es berührt hat, ist alles rot. »Bundstift. Malbuch.«
    Mädchen staunt und gibt einen überraschten Ton von sich.
    Sonnenhaar blickt auf. Jetzt redet sie mit Mädchen. In dem Lautplappern erkennt Mädchen eine Wiederholung. »Äl liss spiel enn.«
    Spiel enn.
    Mädchen runzelt die Stirn und versucht zu verstehen. Irgendwie ist ihr der Klang vertraut.
    Aber Sonnenhaar redet weiter, fischt alle möglichen Sachen aus dem geheimen Platz, bis Mädchen sich nicht mehr erinnern kann, woran sie sich erinnern will. Jedes neue Ding bringt Mädchen zum Staunen und macht, dass sie die Hand danach ausstrecken will.
    Dann, als Mädchen fast so weit ist, dass sie es tut, dass sie das spitze rote Stöckchen berührt, legt Sonnenhaar Es auf den Tisch.
    Mädchen schreit und weicht zurück, aber dieser Käfig, auf dem sie sitzt, hält sie fest. Sie fällt nach hinten, schlägt sich den Kopf an, schreit wieder und krabbelt, so schnell sie kann, auf Händen und Knien zu den Bäumen, in ihr Versteck.
    Sie hat gewusst , dass sie nicht so zutraulich werden darf. Was bedeutet es schon, dass sie hier atmen kann? Das ist eine unwichtige Kleinigkeit, ein Trick.
    Sonnenhaar sieht sie mit gerunzelter Stirn an, stößt einen Schwall von Lauten aus. Mädchen kann nichts davon erkennen. Ihr Herz schlägt so schnell, dass es klingt wie die Trommeln der Menschen, die am Fluss fischen gehen.
    Jetzt ist fast kein Platz mehr zwischen ihnen.
    Sonnenhaar hält Es zu ihr hin.
    Mädchen schreit wieder und krallt die Finger in ihre Haare. Sie schnaubt. Er ist hier! Er weiß, dass sie Sonnenhaar gern hat, und jetzt wird Er ihr wehtun. Alles, woran sie denken kann, ist der Laut, den sie am besten kennt von allen.
    Neeeeeein ...
    * * *
    Plötzlich fing Alice an, sich die Haare zu raufen, wild den Kopf zu schütteln und zu schnauben. Ein tiefes, kehliges Knurren entrang sich ihrer Kehle.
    Julia erkannte die Echtheit dieser Gefühle. Sie stiegen direkt aus Alices Herz auf, aus einem dunklen, beängstigenden Ort.
    Kurz entschlossen öffnete sie die Tür, warf den Traumfänger hinaus auf den Korridor und schloss die Tür wieder. »So«, sagte sie leise und bewegte sich ganz langsam auf die Kleine zu. »Es tut mir leid, Schätzchen. Es tut mir wirklich leid.« Sie ging vor Alice auf die Knie, sodass sie ungefähr auf gleicher Augenhöhe waren.
    Alice rührte sich nicht, ihre Augen waren groß und voller Furcht.
    »Du hast Angst«, sagte Julia. »Du denkst, du wirst bestraft, stimmt‘s?« Ganz langsam streckte sie den Arm aus und berührte Alices Handgelenk, sachte wie ein Flüstern. »Es ist alles gut, Alice. Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Doch bei der Berührung stieß Alice einen erstickten Verzweiflungslaut aus und stolperte zurück. Sie versteckte sich hinter den Topfpflanzen und begann leise zu heulen.
    Ganz offensichtlich hatte die Kleine keine Ahnung, was es bedeutete, getröstet zu werden. Auch das gehörte zu den vielen schrecklichen Dingen, die dieses Kind erlebt hatte.
    »Hmmm«, machte Julia und blickte sich demonstrativ im Zimmer um. »Was machen wir denn jetzt?« Ein Weilchen später nahm sie das alte, zerfledderte Exemplar von Alice im Wunderland . »Wo haben wir die kleine Alice denn verlassen?«
    Sie ging zum Bett, setzte sich, legte das Buch offen auf ihren Schoß und sah zu Alice hinüber. Zwischen zwei großen grünen Wedeln spähte ein kleines ernstes Gesicht hervor. »Komm«, sagte Julia sanft. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Alice gab einen kläglichen Ton von sich, eine Art Wimmern.
    Julia verspürte einen Stich in der Brust. Irgendwie klang dieses Jammern gleichzeitig viel zu alt und viel zu jung für dieses Kind. Es war wie eine Quintessenz der Angst, eine unsägliche Sehnsucht. »Komm«, sagte sie wieder und klopfte neben sich aufs Bett. »Ich tu dir nichts, du musst keine Angst haben.«
    Doch Alice blieb in ihrem Winkel.
    Also begann Julia zu lesen. »›Schäm dich‹, sagte Alice. ›So ein großes Mädchen wie du (und das stimmte ja wirklich) heult doch nicht wie ein Baby! Hör sofort auf damit, verstanden!‹ Aber sie hörte nicht auf und vergoss literweise Tränen, bis um sie herum ein ganzer See war.«
    Von der anderen Seite des Zimmers kam ein Geräusch, ein Scharren wie von kleinen Füßen.
    Julia lächelte leise in sich

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