Wohin das Herz uns trägt
sie konnte nicht. In ganz Rain Valley war er wahrscheinlich der einzige Mensch, der wirklich verstand, wie sie sich gerade fühlte. Woher sie das so genau wusste, hätte sie nicht sagen können, es ergab eigentlich keinen Sinn, und trotzdem spürte sie es mit absoluter Sicherheit. »Ich glaube, mir reichen schon sechzig. Mein Kopf ist kleiner.«
Lächelnd streckte er ihr einen Helm entgegen.
Sie setzte ihn auf, stieg hinter ihm auf den Sozius und legte fest die Arme um seine Taille.
So fuhren sie durch die kalten grauen Straßen, vorbei an den Übertragungswagen, vorbei an dem Parkplatz, auf dem die Schulbusse standen. Der Wind zupfte an Julias Ärmeln und zerrte an ihren Haaren, als sie auf den Highway einbogen. Sie fuhren und fuhren, durch die Nacht, über den schmalen, unebenen Highway. Julia klammerte sich an Max.
Als sie vom Highway abfuhren und auf Max‘ Auffahrt einbogen, war ihr das einerlei. Wenn sie ehrlich war, hatte sie von Anfang an gewusst, wo sie landen würden. Morgen würde sie ihre Vernunft in Frage stellen - oder vielmehr die Unvernunft -, aber jetzt fühlte es sich so gut an, die Arme um ihn zu legen. Es war gut, nicht allein zu sein.
Er stellte das Motorrad in der Garage ab.
Wortlos gingen sie ins Haus. Sie setzte sich aufs Sofa, während Max ihr ein Glas Weißwein holte, ein Feuer im Kamin anfachte und die Stereoanlage einschaltete. Der erste Song war etwas Sanftes, Jazziges.
»Sie brauchen sich die ganze Mühe nicht zu machen. Um Himmels willen, fangen Sie jetzt bloß nicht auch noch an, die Kerzen anzuzünden.«
Er setzte sich neben sie. »Warum denn nicht?«
»Ich gehe nicht mit Ihnen nach oben.«
»Ich kann mich auch nicht daran erinnern, Sie darum gebeten zu haben.«
Unwillkürlich musste sie lächeln. Etwas entspannter lehnte sie sich in die weichen Kissen zurück und sah Max über den Rand ihres Weinglases hinweg an. Im Feuerschein sah er atemberaubend gut aus. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, ein verführerischer Gedanke. Warum eigentlich nicht?
Sie könnte ihm doch die Treppe hinauf folgen, in sein großes Bett steigen und sich von ihm lieben lassen. Dann könnte sie eine Zeit lang alles andere vergessen. So was taten Frauen doch andauernd.
»Woran denken Sie?«
Sie war sicher, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Ein Mann wie er kannte jede Nuance des Verlangens im Gesicht einer Frau. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Genau genommen habe ich daran gedacht, Sie zu küssen.«
Er beugte sich zu ihr. Sein Atem roch ganz leicht nach Whiskey. »Und?«
»Wie meine Schwester bereits richtig festgestellt hat, bin ich nicht Ihr Typ.«
Er wich zurück. »Glauben Sie mir, Julia, Ihre Schwester hat keine Ahnung davon, was für eine Frau ich mir wünsche.«
Sie hörte die Schärfe in seiner Stimme und sah etwas in seinen Augen, das sie überraschte. »Ich habe mich in Ihnen getäuscht, glaube ich«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm.
»Jedenfalls haben Sie voreilige Schlüsse gezogen.«
»Berufsrisiko«, lächelte sie. »Ich neige dazu, zu glauben, dass ich die Menschen kenne.«
»Sie sind also Spezialistin für Beziehungen, ja?«
»Wohl kaum.« Sie lachte wehmütig.
»Lassen Sie mich raten: Sie sind eine Frau, die nur den einen will. Eine Romantikerin, alles nur Herzen und Blumen.«
»Na, wer zieht denn jetzt voreilige Schlüsse?«
»Irre ich mich denn?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie romantisch ich bin, aber ich kenne nur eine Art zu lieben.«
»Und die wäre?«
»Mit vollem Einsatz.«
»Gefährliche Sache«, meinte er stirnrunzelnd.
»Sagt der Bergsteiger. Wenn Sie klettern, setzen Sie Ihr Leben aufs Spiel. Wenn ich liebe, riskiere ich mein Herz. Alles oder nichts. Bestimmt klingt das in Ihren Ohren ziemlich dumm.«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte er, und seine Stimme war so sanft, dass ihr ein wohliger Schauer über den Rücken lief. »Mit der gleichen Leidenschaft machen Sie Ihre Arbeit, das habe ich längst gemerkt.«
»Ja«, sagte sie, überrascht von seiner Beobachtung. »Deshalb war das heute auch besonders hart.«
Einen langen Augenblick starrten sie einander an. Max schien in ihren Augen etwas zu suchen oder etwas zu sehen, was er nicht verstand. Schließlich sagte er: »Als ich in L.A, gearbeitet habe, wurden fast jede Nacht Opfer von Bandenschießereien eingeliefert. Anfangs bin ich noch lange nach meiner Schicht in der Klinik geblieben und habe mit den Brüdern und Schwestern der Verletzten
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