Wohin das Herz uns trägt
Nachbildungen von Gefühlen. Er hatte gedacht - ehrlich geglaubt dass er nichts mehr empfinden konnte, solange nicht sein Leben in Gefahr war. Das war es, was ihn dazu getrieben hatte, Felswände und schroffe Gipfel emporzuklettern: das Bedürfnis, endlich wieder zu fühlen , selbst wenn es nur einen Moment anhielt.
Jetzt fühlte er wieder etwas. Er brauchte nur in Julias traurige Augen zu schauen.
* * *
Julia ging ins Haus.
Ellie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, die Hunde quer über dem Schoß. »Wurde aber auch Zeit«, sagte sie etwas irritiert.
»Ich war doch gar nicht so lange weg.«
»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Die Pressekonferenz war brutal.«
Julia ließ sich auf dem Polster nieder und legte die Füße auf den Couchtisch. Sie spürte Ellies Blick auf sich ruhen, wandte sich ihr jedoch nicht zu. »Kann man wohl sagen.«
Eine lange Pause trat ein. Julia wusste, dass ihre Schwester überlegte, was sie sagen sollte.
»Mach dir nichts draus«, sagte Julia schließlich. »Ich muss das durchstehen. Noch mal. Aber wenigstens hab ich diesmal Alice.«
»Und mich.«
In ihrer Stimme erkannte Julia einen verletzten Unterton. »Und dich«, wiederholte sie und spürte im gleichen Moment, wie sich etwas in ihrer Brust entspannte.
»Wo warst du denn?«
Sofort stieg Julia das Blut ins Gesicht, sie senkte den Blick und sah die Hunde an. »Bei Max. In seinem Haus.«
Ellie richtete sich auf. »Ach wirklich? Max nimmt Frauen nie mit nach Hause.«
»Ich glaube, ich hab ihm leid getan.«
Mit gerunzelter Stirn starrte Ellie sie an. »Habt ihr ...«
»Nein«, fiel ihr Julia hastig ins Wort. Sie wollte es nicht einmal hören. »Natürlich nicht.«
»Nimm dich in Acht vor ihm«, sagte Ellie nach einer Weile. »Ich mache keine Witze, Jules. Und ich bin auch nicht eifersüchtig. Sei einfach vorsichtig.«
Julia war gerührt von ihrer Fürsorglichkeit. »Klar«, versprach sie, stand dann auf und fügte hinzu: »Aber momentan bin ich total fertig. Am besten geh ich jetzt gleich ins Bett. Danke, dass du aufgeblieben bist.«
»Danke, dass du für uns durchs Feuer gegangen bist.«
Julia ging zur Treppe. Gerade legte sie die Hand aufs Geländer, als Ellie ihren Namen rief. Sie blieb stehen und drehte sich um: »Ja?«
»Alles wird gut, vertrau mir. Früher oder später wächst Gras über die Sache, und die Leute werden wieder wissen, wie gut du in deinem Beruf bist.«
Julia, die die Luft angehalten hatte, atmete langsam aus. »Das hätte Mom auch gesagt.«
Ellie lächelte.
Während sie die Treppe hinaufstieg, versuchte Julia, sich an diesen Worten festzuhalten, sie als Rüstung zu sehen. Das hatte sie als Kind immer getan. Wenn irgendeine Gemeinheit in der Schule - oder die mangelnde Aufmerksamkeit ihres Vaters - sie verletzt hatte, lief sie in Tränen aufgelöst zu ihrer Mutter. Alles wird gut! sagte Mom dann, wischte ihr die Tränen ab und nahm sie in den Arm. Sie roch stets nach Pfirsichshampoo und Zigaretten.
Im Zimmer angekommen, ging sie direkt zum Bett am Fenster.
Sie deckte die Kleine zu, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr behutsam einen Kuss auf die zarte Wange.
Statt aufzustehen, kniete sie sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, neben das Bett. Ohne richtig zu merken, was sie tat, senkte sie den Kopf und schloss die Augen.
Gib mir Kraft.
Noch einmal küsste sie Alices Wange, dann kletterte sie in ihr eigenes schmales, einsames Bett und schlief ein.
* * *
Etwas stimmt nicht.
Mädchen spürt es, sobald sie die Augen aufgeschlagen hat. Sie steht ganz still und wittert. Viele Dinge kann man spüren, wenn man ganz still ist, das hat sie gelernt. Wenn bald Schnee kommt, riecht es nach Äpfeln, und ihr kleinster Finger schwillt an; ein Bär auf der Jagd macht ein Geräusch wie Schnarchen. Gefahr kann man rechtzeitig ahnen, wenn man ganz still ist. Diese Lektion hat Sie nie gelernt. In den trägen anderen Tagen, die sie manchmal im Traum besucht, erinnert sie sich daran, wie Sie versucht hat, mit Mädchen zu sprechen. Und an den Ärger, den das zur Folge hatte.
Aus ihrem Versteck hinter den kleinen Bäumen starrt sie jetzt durch die Blätter zu der sonnenhaarigen Sie, die so still ist auf einmal.
Hat Mädchen etwas falsch gemacht?
Sonnenhaar blickt auf. Sie sieht traurig aus, so, als würde aus ihren Augen vielleicht bald wieder Wasser kommen. Und müde. So hat Sie damals auch ausgesehen, bevor Sie tot war.
»Kommherälliss.« Sonnenhaar klopft aufs Bett.
Mädchen kennt diese Geste. Es
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