Wohin das Herz uns trägt
gewesen, von dem sie Kraft bekam, während Julia ihrer Mutter immer viel näher gestanden hatte. Dass Ellie diesen Stuhl ausgewählt hatte, konnte nur bedeuten, dass ihr etwas Wichtiges durch den Kopf ging.
Julia nahm im Schaukelstuhl Platz. Eine leichte Brise ließ die trockenen Blätter über die Wiese tanzen. Das gurgelnde Rauschen des Fall River erfüllte die Luft. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Julia und sah ihre Schwester an. »Was gibt es denn?«
Ellie wirkte blass und irgendwie erschüttert.
Beunruhigend, dieses Energiebündel so niedergeschlagen zu sehen. Julia beugte sich zu ihr. »Was ist denn los, Ellie?«
»Die Reporter verlassen die Stadt. Sie glauben, dass die ganze Geschichte mit dem Wilden Kind ein Schwindel ist. Morgen werden wahrscheinlich nur noch die Gazette und der Olympian darüber berichten.«
Plötzlich dämmerte Julia, was das bedeutete und was Ellie daran so nervös machte.
»Du musst mit der Presse sprechen«, fuhr Ellie leise fort, als könnte sie die Ungeheuerlichkeit dadurch abschwächen.
»Weißt du überhaupt, was du da von mir verlangst?«
»Was für eine Wahl haben wir denn? Wenn die Geschichte aus den Medien verschwindet, erfahren wir vielleicht nie, wer Alice wirklich ist. Und du weißt ja, was mit verlassenen Kindern geschieht. Der Staat wird sie in irgendein Heim stecken und vergessen.«
»Ich kann sie zum Sprechen bringen.«
»Ich weiß. Aber was, wenn sie ihren Namen nicht weiß? Wir müssen ihre Familie finden.«
Das konnte Julia nicht bestreiten. So schmerzlich es sein mochte - was hier auf dem Spiel stand, war klar. Es lief auf eine Entscheidung zwischen ihren eigenen und Alices Interessen hinaus. »Ich wollte etwas in der Hand haben, was ich den Medienleuten sagen kann. Einen Erfolg, der mein Versagen aufwiegt. Sie werden ...«
»Sie werden was?«
Sie werden mir nicht glauben. »Ach nichts.« Julia sah weg. Ihr Blick wanderte zum Fluss, auf dem jenseits der grünen Wiese immer wieder Lichtreflexe glitzerten. Auf einmal musste sie an das Blitzlichtgewitter und das Kreuzfeuer hässlicher Fragen denken. Wenn die Presse sich auf einen Menschen stürzte, gab es für diesen kein Entrinnen mehr - nicht einmal die Wahrheit schützte ihn dann noch. Julias Ruf war ein für allemal beschädigt, man würde ihre professionelle Meinung nicht mehr ernst nehmen, ganz gleich, worum es ging. Aber sie hatte die Chance, sich - und damit auch Alice - wieder auf die Titelseiten zu katapultieren. »Wahrscheinlich können die mich sowieso nicht noch mehr kaputtmachen«, sagte sie schließlich und schauderte. Hoffentlich hatte ihre Schwester es nicht bemerkt.
Doch Ellie sah alles, das war schon immer so gewesen. Dass sie zur Polizei gegangen war, hatte ihre natürliche Beobachtungsgabe nur noch verstärkt. »Ich werde bei dir sein, die ganze Zeit. Direkt neben dir.«
»Danke.« Vielleicht würde es tatsächlich ein bisschen leichter sein, wenn sie vor laufender Kamera nicht so verdammt allein war. »Setz eine Pressekonferenz für heute Abend an. Sagen wir ... um sieben.«
»Was willst du denen erzählen?«
»Alles, was ich bisher über Alice weiß. Ich zeige ihnen die Fotos, beschreibe ein paar interessante Beobachtungen ihres Verhaltens und lasse sie ihre Fragen stellen.«
»Es tut mir leid«, sagte Ellie.
Julia versuchte zu lächeln. »Ich hab das schon mal durchgemacht, also werde ich es vermutlich auch ein zweites Mal überleben. Für Alice.«
* * *
Julia, Ellie, Cal und Peanut standen zusammengepfercht wie die Ölsardinen im Pausenraum und lauschten dem Lärm, den die Reporter, Fotografen und Kameraleute vor der Polizeistation veranstalteten, während sie ihre Ausrüstung aufbauten, Soundchecks machten, Kameras überprüften.
»Du kriegst das hin«, versicherte Ellie ihrer Schwester im Minutentakt.
Wie aufs Stichwort stimmte Cal ihr jedes Mal eifrig zu.
»Ich mach mir Sorgen um Alice«, entgegnete Julia.
»Myra sitzt direkt vor der Tür. Sie ruft an, wenn Alice auch nur einen Piep macht«, beruhigte sie Ellie. »Du kriegst das hin.«
Auf einmal sagte Peanut: »Die werden dich einen Quacksalber schimpfen, Julia.«
»Peanut!« Ellie schnappte vor Entsetzen nach Luft.
Aber Peanut grinste Julia an. »Die Technik wende ich bei meinen Kindern an. Umgekehrte Psychologie nennt man das unter Fachleuten. Jetzt kann das, was die dir gleich unter die Nase reiben, nur noch besser sein.«
»Kein Wunder, dass deine Kinder sich dauernd irgendwelche Körperteile piercen
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