Wohin der Wind uns trägt
Liste stehen. Der erste Name war mit einem großen Fragezeichen versehen, denn sie hatte gehört, dass die Besitzer nicht gut mit ihren Pferden umgingen. Also machte Jo sich auf den Weg zu den Orion-Ställen, deren Besitzer Nicholas »Neddy« Fox hieß.
Es war ein düsterer grauer Tag. Ein kalter Wind pfiff durch das Loch neben dem Bremspedal des Morris, wo der Wagen schon zwei Tage nach dem Kauf durchgerostet war, und drang durch die schlecht schließenden Türen. Durch das undichte Fenster auf der Fahrerseite tropfte es auf Jos Jeans. Ein feuchtkalter Fleck breitete sich rasch auf ihrem Oberschenkel aus. Zwischen Thetford und Norwich bog sie von der Hauptstraße ab und fuhr durch ein Labyrinth schlecht ausgeschilderter Nebenstraßen. Dabei dachte sie an Winks und wünschte sich zurück in die australische Sonne.
An einer Gabelung blieb Jo stehen, um auf die Karte zu schauen, kurbelte das Fenster herunter und spähte hinaus. Der Regen hatte sich in ein leichtes Nieseln verwandelt, das Straßenschild war fast vollständig weggefault. Der Rest war so mit Moos überwuchert, dass man den Namen nicht mehr lesen konnte. Bedrückt blickte Jo über die regennasse Ebene. Ihr war klar, dass sie sich verfahren hatte. Nun hatte sie zwei Möglichkeiten: Entweder kehrte sie auf dem Weg zurück, den sie gekommen war, oder sie fuhr weiter, in der Hoffnung, irgendwann auf ein lesbares Straßenschild zu stoßen. Gerade hatte sie sich fürs Umkehren entschieden, da sah sie in der Ferne zwei Pferde mit wehenden Mähnen über das Feld jagen. In der Hoffnung, sich wirklich dort zu befinden, wo sie der Karte nach sein sollte, fuhr sie den Pferden hinterher. Und wirklich stand sie kurz darauf vor den Orion-Ställen. Allerdings waren das windschiefe Tor und der schlammige Weg eine ziemliche Enttäuschung. Neben dem baufälligen Haus, auf dessen Dach Ziegel fehlten, erhoben sich heruntergekommene Gebäude, die offenbar als Ställe dienten. Bei zwei Boxentüren fehlten die Scharniere des oberen Teils. Auf dem Hof prangte ein gewaltiger Misthaufen, und überall lag durchweichtes Stroh herum. Jo fragte sich, wie diese Gebäude Norfolks heftigem Wind so lange hatten standhalten können. Es schien niemand zu Hause zu sein.
Jo parkte ihren Wagen an einem Graben neben einer wuchernden Hecke und watete durch den Schlamm. Sie spähte in eine der Boxen. Es war unvorstellbar für sie, wie ein wahrer Pferdeliebhaber seine Ställe so herunterkommen lassen konnte. Eine dicke Schmeißfliege surrte zornig an ihr vorbei.
»Suchen Sie jemand Bestimmten?«
Jo machte vor Schreck einen Satz. Sie blickte sich um und sah einen mürrischen Mann Anfang sechzig auf sich zukommen. Er trug eine zerlumpte alte Hose, eine schmutzige Schirmmütze und führte einen räudig wirkenden Klepper am Zügel. Seine mit Dreck verkrusteten Gummistiefel platschten durch die Pfützen. Sein Kinn war mit Bartstoppeln bedeckt, und die wenigen verbliebenen Zähne wiesen Nikotinflecken auf. Die eingesunkenen Wangen zierten ein wettergegerbtes Gesicht, seine Nase war fleckig und knallrot.
»Ich suche Mr Fox, aber ich glaube, das hat sich schon erledigt. Ich wollte nur fragen, ob er eine Pferdepflegerin braucht«, stammelte sie und trat hastig den Rückzug an. In dieser Bruchbude wollte sie ganz bestimmt nicht arbeiten.
»Sie sind nicht von hier, richtig? Kennen Sie sich denn mit Pferden aus?«, brummte der Mann.
»Ich bin Australierin. Und, ja, ich kenne mich mit Pferden aus«, erwiderte Jo, wobei sie sich überlegte, ob sie einfach ihr Heil in der Flucht suchen sollte.
»Australierin, was? Ich bin Neddy Fox. Wann können Sie anfangen?«, fragte er, während er sanft die Nüstern des Pferdes streichelte. Das Pferd kaute liebevoll an der Kappe des Mannes.
»Äh, ich … sofort, denke ich«, antwortete Jo höflich. Sie war überrascht, dass ihr ohne richtiges Vorstellungsgespräch eine Stelle angeboten wurde. Es kam aber überhaupt nicht in Frage, dass sie in einem derart heruntergekommenen Stall arbeitete. Dann jedoch siegte ihre Neugier. Wie konnte ein Mann, der von seinen Pferden offenbar geliebt wurde, seine Ställe so verfallen lassen? »Gibt es bei Ihnen eine Unterkunft?«
Neddy brachte das Pferd in seine Box und zeigte ihr ein schäbiges Zimmer über den Ställen, das einen neuen Anstrich bitter nötig hatte. In einer Ecke stand ein geschwärzter Herd mit zwei Platten. Der Toilettensitz war zerbrochen, die Badewanne unter dem tropfenden Gasboiler schmutzig braun und von
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