Wohin der Wind uns trägt
Kopf aus der Box streckte, um ihr Frühstück zu fordern, war Neddy ein anderer Mensch. Als Jo nach dem Training mit den anderen Pferden kam, um ihr das Futter zu bringen, sah sie zu ihrer Freude, dass das immer noch magere Pferd ungeduldig mit dem Kopf gegen die Plastikflaschen schlug, die Jo ihr als Spielzeug aufgehängt hatte, damit sie sich während der Genesungszeit nicht langweilte.
»Ich traue meinen Augen nicht«, sagte Neddy, ließ sich auf die alte Holzbank neben dem Stall fallen und wischte sich über die feuchte Wange. Dann bedankte er sich ausführlich bei Jo.
»Dieses Pferd ist die Freude meines Lebens«, gestand er. »Winny’s Pride habe ich sie genannt, nach meiner Frau Winifred. Wir waren einundvierzig Jahre lang verheiratet. Vor drei Jahren ist sie an Krebs gestorben. Sie hat dafür gesorgt, dass hier immer alles blitzblank war, und sich nicht vor harter Arbeit gescheut. Als ich sah, wie es mit der Stute bergab ging, habe ich es nicht einmal mehr über mich gebracht, ihren Namen auszusprechen.«
Er sah Jo erleichtert an.
»Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie jedes Mal den Tierarzt holen können, wenn eines der Pferde ein Zipperlein hat. Diese Doktoren sind doch alle gleich. Sie kassieren nur. Und wofür? Für eine Schachtel Tabletten.«
Lachend fiel Jo dem alten Mann um den Hals. »Wir haben Winny’s Pride gerettet«, sagte sie strahlend. »Wie, spielt eigentlich keine Rolle.«
Nachdem Winny wieder gesund war, änderte sich Jos Verhältnis zu Neddy gewaltig. Erstens erhöhte er ihr Gehalt, weil ihm nichts anderes einfiel, um sich angemessen bei ihr zu bedanken. Außerdem war er endlich einverstanden, den Dachdecker zu bestellen. Aber die wichtigste Veränderung bestand darin, dass er anfing, über seine Probleme zu sprechen. Während sie gemeinsam die Steigbügelriemen überprüften, fand Jo heraus, dass Neddy nicht nur den Tod seiner Frau verschmerzen musste. Seine beiden Söhne – inzwischen verheiratet und Familienväter – wohnten zwar in der Nähe, hatten aber den Kontakt zu ihm abgebrochen. Sie gaben ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter und warfen ihm vor, er habe ihr aus Geiz die nötige ärztliche Hilfe verweigert, bis es zu spät gewesen sei. In Wahrheit jedoch hatte Neddy nur versucht, seine Söhne vor der traurigen Wahrheit zu schützen, dass ihre Mutter unheilbar krank war.
»Familien sind schon merkwürdig«, sagte Jo, hängte die Riemen auf und nahm einen Sattel, den sie polieren wollte, vom Haken.
Einige Tage später kam Neddy nachts aus dem Haus, weil er kurz nach zehn ein Geräusch gehört hatte. Er traf Jo dabei an, wie sie neue Scharniere an die Stalltüren schraubte.
»Warum schuften Sie sich so ab? Sind Sie völlig übergeschnappt?«, wollte er wissen. – Jo zuckte mit den Achseln. »Eines Tages werde ich die angesehene Trainerin eines großen Rennstalls sein und den Melbourne Cup gewinnen. Und dorthin bringt man es nicht durch Herumsitzen«, gab sie grinsend zurück.
»Und ausgerechnet in diesen Ställen beginnen Sie Ihre Karriere?«, wunderte sich Neddy. Schmunzelnd wandte sich Jo wieder ihrer Arbeit zu.
»Irgendwo muss ich ja anfangen«, antwortete sie fröhlich.
Vor sich hin brummend kehrte Neddy zum Haus zurück.
Am folgenden Nachmittag führte er Winny’s Pride mit Jo auf dem Rücken zur Wiese. Jo bemerkte überrascht ihren federnden Schritt. Voller Begeisterung ließ sie das Pferd vorsichtig die ersten Übungen machen. Der Wind fuhr ihr unter die Kappe, spielte mit ihrem Haar und brachte den reifenden Mais auf den nahe gelegenen Feldern zum Wogen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Neddy sie – einen Fuß auf dem Gatter – stolz beobachtete. Sie beugte sich vor, tätschelte den Hals der Stute, lobte sie leise und trieb sie zum Trab an. Diese Schlacht hatte sie eindeutig gewonnen.
Der August kam und ging, und der Herbst nahte. Eines kühlen Morgens Anfang September ging Jo Richtung Haus, um mit Neddy wie jeden Morgen eine Tasse Tee zu trinken. Sie eilte ins Haus, um in der altmodisch ausgestatteten Küche den Kessel aufzusetzen, und legte Kekse auf einen Teller.
»Das wird mein nächstes Projekt«, dachte sie, als ihr Blick über die zerkratzten Küchenschränke und die abblätternde Farbe an den Wänden glitt. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, sah sie zu den Ställen hinüber, die inzwischen ordentlich und hellgrün gestrichen waren. Zufrieden dachte sie daran, was sie seit ihrer Ankunft an jenem regnerischen Julitag geschafft
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