Wohin der Wind uns trägt
gewesen. Das konnte kein Zufall sein.
»Beruhige dich, Kleines«, sagte Charlie und berührte Jos Hand. »Wir sind schlauer als die anderen.«
Jos Blick wurde versöhnlicher.
»Dad, du hast mich nicht mehr Kleines genannt, seit … seit …« Sie schluckte und drückte fest seine Hand. Seine Sprache klang heute viel deutlicher als sonst.
»Es wird nicht geheult, Jo. Das kannst du dir für später aufsparen«, erwiderte Charlie rasch. Aber er hatte genau verstanden, was sie meinte. Schließlich hatte er ein gutes Gedächtnis. Außerdem liebte er seine Tochter und war unbe- schreiblich stolz auf sie.
»Die Sache mit dem Vorwurf der Behinderung musst du auf sich beruhen lassen, Jo. Sollen sie diese Runde doch gewinnen.«
»Was?«, schrie Jo entsetzt. »Du verlangst von mir, dass ich tatenlos zusehe, obwohl sie im Unrecht sind und dem Stall schaden?«
»Vertrau mir«, erwiderte Charlie und blickte sie unverwandt an. Nach einer Weile stimmte Jo widerstrebend zu. »Braves Mädchen. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass ich mich wieder in den Ställen blicken lasse, damit alle merken, aus welchem Holz ein Charlie Kingsford geschnitzt ist. Außerdem bin ich neugierig, was du in der Zwischenzeit mit meinen Pferden gemacht hast«, fügte er beiläufig und mit einem schiefen Grinsen hinzu.
Ein entschlossenes Funkeln stand in seinen Augen, und er schmiedete bereits Pläne, als Jo ihm um den Hals fiel. Es war an der Zeit, einige Freunde, die ihm etwas schuldig waren, um einen Gefallen zu bitten. Und der Mensch, der die Kunden zurückholen konnte, wenn er mit den richtigen Leuten sprach, war Jack Ellis. Seit Ninas Geständnis hatten die beiden Männer einen Bogen umeinander gemacht. Doch Jack war ein wichtiger Geschäftspartner, außerdem mochte Charlie ihn immer noch. Und Jack schuldete ihm eindeutig einen Gefallen.
Jo war zwar überglücklich, weil Charlie endlich bereit war, in den Rennstall zu kommen, doch ihre Ungeduld wuchs während der dreimonatigen Sperrzeit für Damien. Sie setzte das Training zwar entschlossen fort, konnte jedoch nur Siege in unbedeutenden Provinzrennen verbuchen. Währenddessen stand die Kingsford Lodge weiter im Kreuzfeuer der Kritik, und Boxen und Bankkonto leerten sich in atemberaubendem Tempo. Es gab nur noch wenige Pferdebesitzer, die zu Jo hielten und fest an ihre Fähigkeiten glaubten. Um das Maß vollzumachen, musste Jo schließlich mit ansehen, wie Damien, der nach der Sperre dringend wieder Rennpraxis brauchte, auf einem von Rosys Pferden das Moonee-Valley-Hindernisrennen gewann.
»Hört das nie auf?«, rief Jo und ließ sich an einem schwülen Nachmittag auf der hinteren Veranda in die Hollywoodschaukel fallen. Gerade hatte sie wieder einmal mit ihrem Steuerberater telefoniert. Sie war fest entschlossen, Let’s Talk in diesem Jahr beim Melbourne Cup starten zu lassen. Doch derzeit sah es nicht danach aus, als ob das Pferd die notwendigen Siege für die Qualifikation zusammenbekommen würde. Jo hatte Let’s Talk, einen großen Fuchs, auf Anhieb ins Herz geschlossen. Das Pferd war fordernd, anspruchsvoll und frech und hatte sich seinen Namen dadurch verdient, dass es laut wiehernd auf dem Hof herumbockte, sobald es sich nicht genügend beachtet fühlte.
Eine junge Pferdepflegerin hatte den Hengst bei einer Auktion in den Ring geritten. Bis auf die Ansagen des Auktionators war es totenstill gewesen. Doch dann blieb Let’s Talk plötzlich wie angewurzelt stehen, ohne dass es dem Mädchen gelungen wäre, ihn zum Weitergehen zu bewegen. Schmunzelnd hatte Jo mitgeboten, und zu ihrem Erstaunen war die Auktion binnen Sekunden vorbei gewesen. Das Pferd gehörte ihr. Während ihre Sitznachbarn etwas von zweifelhaftem Stammbaum und seiner Bockigkeit raunten, war sie begeistert gewesen wie nur selten zuvor, denn sie sah das Potenzial, das in seinem kräftigen Körperbau und seinem Temperament steckte. Allerdings rührte das Pferd sich noch immer nicht von der Stelle, bis die Pferdepflegerin in ihrer Verzweiflung in die Hände klatschte. Let’s Talk warf einen Blick auf die Menge und machte einen Schritt vorwärts. Dann klatschte einer der Zuschauer, worauf Let’s Talk noch einen Schritt ging. Bald ließ sich der Rest des Publikums anstecken und applaudierte ebenfalls. Das Pferd reagierte mit einer raschen Verbeugung und scharrte zweimal mit dem Huf. Mit einem lauten Wiehern trottete es schließlich zufrieden und mit hoch erhobenem Schweif aus dem Ring, begleitet von Gelächter und
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