Wohin der Wind uns trägt
ist. Ich habe das Buch Dir gewidmet, und es soll meiner ewigen Liebe ein Denkmal setzen. Ich möchte dir dafür danken, wie sehr Du mein Leben bereichert hast, während wir zusammen waren. Nie habe ich aufgehört, mich danach zu sehnen und dafür zu beten, dass es eines Tages wieder so sein könnte. Jo, ich liebe Dich und möchte so gern bei Dir sein. Seit ich gelesen habe, dass es Deinem Vater besser geht, frage ich mich, ob es vielleicht eine neue Chance für uns gibt …
In dem Rest des Briefes hieß es, Der Austernfischer solle in zwei Monaten erscheinen. Simon sei zwar ein unbekannter Autor, doch wegen seiner Beziehung zu Australien habe sein Verleger beschlossen, ihn Anfang November auf eine kurze Lesereise dorthin zu schicken. Er versprach, sich bei ihr zu melden.
Jo spürte einen Kloß in der Kehle, als sie die Widmung las. Sie lautete: »Für den Menschen, der stets der Mittelpunkt meines Lebens sein wird.« Jo nahm Manuskript, Brief und Einband und taumelte tränenblind wieder hinaus zur Hollywoodschaukel auf der Veranda.
Die nächsten beiden Stunden verbrachte sie dort; Hitze und Schwüle waren vergessen, als sie Simons Worte verschlang. Immer wieder musste sie sich die heißen Tropfen wegwischen, die ihr in die Augen stiegen, die Wangen hinunterrannen und auf die Seiten fielen. Erneut spürte sie die Leidenschaft, die sie in Simons Armen empfunden hatte, als sie weiterblätterte, und die schmerzliche Sehnsucht und Einsamkeit waren so frisch wie eh und je. Warum hatte er ihr nie gesagt, dass er an einem Buch schrieb? Wozu das lange Schweigen? Sie hätte doch Verständnis dafür gehabt.
Auf der letzten Seite angelangt, bedeckte sie die Worte mit den Fingern und gab immer nur eines dem Auge frei, denn sie lösten in ihr eine Traurigkeit aus, die sie kaum ertragen konnte.
Inzwischen ist es Winter geworden. Ein scharfer Wind bläst mir ins Gesicht, wenn ich, allein und vor Kälte zitternd, in den Sümpfen von Norfolk stehe. Alle anderen Vögel sind längst nach Süden gezogen. Für einen flüchtigen Augenblick glaube ich, sie wird sich jeden Moment in meine erwartungsvoll ausgebreiteten Arme stürzen. Vor mir steigt ein einsamer Vogel in die Lüfte auf und lässt sich wieder fallen. Sein unverkennbarer Ruf übertönt das Rauschen des ablaufenden Wassers und erfüllt mich mit Erinnerungen. Der Vogel kreist und stürzt ein letztes Mal abwärts, als verstehe er meinen Schmerz. Dann fliegt auch er davon. Der Lavendel wiegt sich, und als eine Welle meine Hosenaufschläge benetzt, entschwindet mit dem Austernfischer meine letzte Hoffnung.
Mit einem lauten Schluchzer schloss Jo die Augen, lehnte sich zurück in das weiche Baumwollpolster und drückte das Manuskript an sich. Vom vielen Weinen brannten ihr die Augen, und sie fühlte sich ausgelaugt; doch die Tränen wollten noch immer nicht versiegen.
»Oh, Simon, so hätte es nicht zu kommen brauchen«, flüsterte sie verzweifelt.
23
In den folgenden zwei Wochen kostete es Jo Mühe, ein freundliches Wort mit ihren Mitmenschen zu wechseln. In ihr herrschte ein Gefühlswirrwarr aus Wut, Enttäuschung und Sehnsucht. So flüchtete sie sich in die Arbeit, denn sie konnte das ständige Nachgrübeln über Simon nicht mehr ertragen. Die gelegentlichen Besuche ihres Vaters in den Ställen empfand sie als Kontrolle, ihre Gespräche endeten unweigerlich in einem Streit. Nicht einmal Phillip gelang es mehr, zu ihr durchzudringen. Als sie eines Morgens nach einem besonders unergiebigen Training plaudernd mit ihm zum Wagen ging, hielt sie es schließlich nicht mehr aus.
»Männer sind eigenartig«, unterbrach sie seinen Redefluss.
»Längst nicht so merkwürdig wie Frauen«, gab Phillip mit einem schiefen Grinsen zurück. Er hoffte, sie endlich aus der seltsamen Stimmung herausholen zu können, in die sie in letzter Zeit verfallen war. »Wie kommst du denn jetzt ausgerechnet darauf?«
»Nun, sie sind eben ganz anders, die Frauen. Erst sagen sie das eine und tun das andere, und dann … na, ja …«
Jo bemerkte, dass Phillip sie prüfend musterte.
»Ich habe letzte Woche von Simon gehört«, sprudelte es aus ihr heraus. Ein Pferd mit Reiter preschte in der Morgendämmerung an ihnen vorbei.
»Oh!« – »Was willst du damit sagen?«, entgegnete Jo und ging schneller.
»Eigentlich nichts Bestimmtes«, antwortete Phillip und eilte ihr nach. »Ich habe mich nur gefragt, warum du in letzter Zeit so merkwürdig bist.«
Jo betrachtete ihn argwöhnisch.
»Und was soll das
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