Wohin der Wind uns trägt
es noch immer nicht wirklich glauben.
Rick lag unter einem weißen Laken.
Der Beatmungsschlauch steckte noch in seinem Mund, und seine Lippen hatten eine bläuliche Färbung.
Der Herzmonitor neben ihm schwieg. Ihr Bruder schien zu schlafen.
Zuerst betrachtete Jo ihn nur, als erwarte sie, dass er jeden Moment die Augen öffnen würde.
Dann beugte sie sich vorsichtig vor und küsste ihn auf die Wange. Sie war überrascht, wie warm sie sich anfühlte.
Eine Träne tropfte auf sein Gesicht. Jo wischte sie weg.
»Rick, ich liebe dich«, flüsterte sie. Tränen verschleierten ihren Blick. Da spürte sie den starken Arm ihres Vaters um ihre Schultern.
»Und ich liebe dich auch, mein Sohn«, murmelte Charlie. Seine Stimme versagte. »Wir werden dich nie vergessen.«
Schluchzend drückte Jo das Gesicht an die Brust ihres Vaters.
3
Der Trauergottesdienst fand am folgenden Dienstag in der Kirche St. Mary in Randwick statt. Durch die Buntglasscheiben strömte strahlend das Sonnenlicht herein und tauchte den weißen Sarg mit seinen vergoldeten Beschlägen und den neuen Mosaikfußboden in einen roten und purpurnen Schein.
Es waren so viele Trauergäste gekommen, dass die kleine Steinkirche gar nicht alle fasste. Die Menschen drängten sich im Eingangsbereich und in den Türen; die Schlange reichte bis hinaus auf die Straße. Die Familie Kingsford war von der großen Anteilnahme, mit der niemand gerechnet hatte, tief bewegt. Offenbar war die ganze Welt des Pferderennsports erschienen, um Abschied von Rick zu nehmen und Australiens berühmtestem Trainer zu kondolieren.
Jo trug Schwarz und hatte ihren langen, aschblonden Zopf unter einem konservativen schwarzen Hut verborgen. Fest entschlossen, nicht zu weinen, starrte sie blicklos auf das Blatt mit den Liedtexten. Doch als ihrem Vater mitten in der Trauerrede die Stimme versagte, konnte sie nicht mehr verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.
Ihr schlanker, gut aussehender neunzehnjähriger Bruder Bertie fühlte sich in seinem dunklen Anzug sichtlich unwohl, wischte sich immer wieder verstohlen die Augen und nestelte an seinem Programm herum.
Nina saß zwischen ihren beiden Kindern. Sie war in ein elegantes maßgeschneidertes Kostüm mit schwarzem Hut und Schleier gekleidet und schluchzte während des ganzen Gottesdienstes. Wie immer umgab sie eine Wolke von Parfumduft.
Worte konnten den Schmerz nicht lindern, den diese Tragödie der Familie Kingsford zugefügt hatte. Nach der Beerdigung versammelten sich Freunde und Verwandte in dem Haus in Cogee, um bei einem kleinen Imbiss Erinnerungen auszutauschen. Viele Gäste hatten eine weite Reise auf sich genommen. Ninas jüngere Schwester war mit ihrem Mann und den beiden Söhnen von der Lavender Lodge angereist, einer exklusiven Schönheitsfarm in Tasmanien. Sogar Charlies älterer Bruder Wayne war über seinen Schatten gesprungen und hatte sich nach sechsjährigem Schweigen wieder gemeldet. Er wurde begleitet von ihrer Mutter Elaine Kingsford, mit der er das Familiengestüt Dublin Park im Hunter Valley betrieb.
Jo, die sich in dem Gedränge wohlmeinender Trauergäste unbehaglich fühlte, flüchtete in den Garten und schlenderte zum Fischteich hinüber. Ihren immer noch in der Schlinge hängenden Arm mit der Hand des anderen Arms stützend, starrte sie mit hängenden Schultern auf die goldblitzenden, zwischen den Seerosen hin und her flitzenden Fische und versuchte, ihre Trauer beiseite zu schieben.
Elaine Kingsford stand an der Glasscheibe des Wintergartens, beobachtete die einsame Gestalt ihrer Enkelin und beschloss, ihr Gesellschaft zu leisten. Festen Schrittes trat sie hinaus auf die Terrasse, überquerte den makellosen Rasen und ging leise auf Jo zu.
Elaine war eine zierliche weißhaarige Frau von Ende sechzig; ihr freundliches Gesicht und ihre Hände waren von der Arbeit im Freien gebräunt. Trotz ihres kleinen Wuchses überragte sie Jo um einen halben Kopf, und ihre Augen waren ebenso strahlend violett wie die ihrer Enkelin.
Der Anblick des bleichen, schweigenden Mädchens ging ihr ans Herz, und sie bemerkte Jos dunkle Augenringe. Elaine hatte die Zwillinge sehr geliebt und sich über jeden ihrer Besuche gefreut. Seit zwei Jahren waren Jo und Rick nicht mehr in Dublin Park gewesen. Und nun würde Rick nie wieder zur Tür hereingestürmt kommen. Vorsichtig wischte sie sich unter der Brille eine Träne weg.
Zum Glück hatte Charlie trotz des Zerwürfnisses zwischen den beiden Brüdern seinen
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