Wohin der Wind uns trägt
bedrückend, und das eigenartige Druckgefühl in ihrem Nacken war schlimmer als je zuvor. Schließlich kehrte Nina zurück.
»Dein Vater ist unterwegs.« Sie hatte im Rennstall angerufen. »Zum Glück weiß seine Sekretärin immer, wo er gerade steckt.«
Jo nickte. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen. Schweigend nahm Nina Platz und flocht die Finger ineinander, während die Sekunden verrannen. Zum ersten Mal im Leben hätte Jo sich gefreut, wenn das Geplapper ihrer Mutter sie von ihren angsterfüllten Gedanken abgelenkt hätte. Wie sehr sehnte sie sich danach, von ihr in die Arme genommen zu werden und die tröstende Stimme zu hören, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte – eine Stimme, die ihr sagte, dass Rick wieder gesund werden würde. Aber sie wusste, dass das ein Wunschtraum war. Die Situation überforderte Nina völlig.
Nur der Vater hätte Jo in diesem Augenblick Halt geben können. Ricks Krampfanfall auf der Trage – sein letzter verzweifelter Versuch, am Leben zu bleiben – hatte sie sehr erschreckt. Rick, ihr Bruder, den sie so sehr liebte. Rick, der sie hänselte, sich mit ihr kabbelte und der so dachte wie sie. Ihr Zwillingsbruder, ein Teil ihres Lebens, ein Teil von ihr. Ein Schauer überlief sie. Der Schmerz in ihrem Nacken verebbte plötzlich.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und der Chefarzt kam herein. Beim Anblick seiner Miene legte sich eine eiskalte Hand um Jos Herz. Nina stürmte wie ein kleines Mädchen auf ihn zu, wilde Hoffnung im Blick.
»Er wird doch wieder gesund?«
»Mrs Kingsford, ich denke, wir sollten uns besser setzen.« Der Arzt zog sich einen Stuhl heran. Er war so ruhig, dass Jo das Schlimmste befürchtete. Nina nahm Platz.
»Ihr Sohn hat eine sogenannte extradurale Blutung erlitten. Das heißt, eine Blutung, die zwischen Gehirn und Schädeldecke stattgefunden hat und die auf einem Röntgenbild nicht zu erkennen ist. Vermutlich hat sie nach dem Sturz auf den Kopf langsam eingesetzt und ist dann immer stärker geworden.« Er hielt inne. Jo verharrte reglos, mit aufgerissenen Augen. Ihre Pupillen waren geweitet.
»Aber er wird doch wieder gesund?«, beharrte Nina und beugte sich vor.
»Ihr Sohn war bei der Einlieferung in die Notaufnahme bereits bewusstlos«, fuhr der Arzt fort. »Als wir ihn in den Behandlungsraum brachten, atmete er bereits nicht mehr.«
Er holte tief Luft. Als er fortfuhr, gab er sich besondere Mühe, die medizinischen Vorgänge möglichst ausführlich zu erläutern, damit Nina und Jo die Wahrheit von allein dämmerte.
»Der Krampfanfall, den Sie vorhin gesehen haben, war bereits ein Hinweis auf einen schweren Gehirnschaden.« Er verstummte. »Niemand hätte das vorausahnen können, Mrs Kingsford. Sie beide haben getan, was Sie konnten, und ich versichere Ihnen, dass auch wir alles Menschenmögliche unternommen haben. Als sein Herz aussetzte, haben wir es mit Wiederbelebungsmaßnahmen versucht, aber vergeblich.«
Wieder brach er ab.
»Leider ist Ihr Sohn vor wenigen Minuten gestorben.«
Jo starrte ihn ungläubig an.
Nina stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.
»Nein! Nein! Das ist nicht wahr. Er kann nicht tot sein. Wozu gibt es denn Krankenhäuser?«, schluchzte sie und taumelte im Zimmer hin und her. Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Arzt zu.
»Hören Sie auf, mir etwas über seinen Tod zu erzählen. Holen Sie Ihren Vorgesetzten, damit der Ihren Pfusch wieder in Ordnung bringt«, zeterte sie und wedelte mit ihrem Banknotenbündel vor seiner Nase herum. »Alle Neurochirurgen des ganzen Landes sollen herkommen. Es ist mir egal, was es kostet.«
Sie zitterte am ganzen Leibe.
Jo war leichenblass, und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi.
»Mum«, sagte sie leise. »Es ist zu spät. Er ist tot.«
Noch während sie diese Worte aussprach, konnte sie sie selbst kaum glauben.
»Mach dich doch nicht lächerlich, Joanna«, fuhr Nina sie an. »Dieser Mensch ist offenbar völlig überfordert.«
Ihre Stimme steigerte sich zu einem hysterischen Kreischen. »Sie Quacksalber! Holen Sie mir sofort einen richtigen Arzt!«
Der Chefarzt streckte die Hand nach Nina aus.
»Mrs Kingsford …«
»Fassen Sie mich nicht an!«, brüllte sie mit bebenden Schultern.
Jo ließ ihre aufgebrachte Mutter mit dem Arzt allein und schlüpfte aus dem Zimmer. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Sie hatte es gewusst – von dem Moment an, als die Schmerzen in ihrem Genick aufgehört hatten.
Dennoch konnte sie
Weitere Kostenlose Bücher