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Wohin der Wind uns trägt

Wohin der Wind uns trägt

Titel: Wohin der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne McCullagh Rennie
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und interessierte sich mehr für ihren gerade abgebrochenen Fingernagel. Nachdem sie den Bentley in der Garage abgestellt hatte, griff sie nach ihrer Handtasche aus Echsenleder und überprüfte wie immer vor dem Aussteigen im Rückspiegel, ob ihr Lippenstift auch nicht verschmiert war.
    »Aber, Mum«, rief Jo entsetzt, warf krachend die Wagentür zu und lief zu ihrer Mutter. »In zwei Wochen findet das Martha-Wellbourne-Turnier statt.«
    »Pass mit der Tür auf«, schrie Nina. »Es ist mir völlig gleichgültig, was das für ein Turnier ist. Du hast selbst gehört, was der Arzt gesagt hat. Wenn du zu früh mit dem Reiten anfängst, könntest du dir wieder die Schulter brechen.«
    »Mum, meine Schulter war nur ausgekugelt, nicht gebrochen«, erwiderte Jo mit einem Aufseufzen. »Und ich kann sie prima bewegen.«
    Sie wollte es vormachen und zuckte zusammen, was Nina nicht entging.
    »Siehst du, was ich meine?«, verkündete diese. »Du wirst keine unnötigen Risiken auf dich nehmen und deine Karriere als Fotomodell aufs Spiel setzen. Dr. Brunswick gehört zu den angesehensten Spezialisten in seinem Fach, und du wirst dich an seine Anweisungen halten. Wie willst du Topmodel werden, wenn deine Schultern schief stehen?«
    »Aber das will ich doch gar nicht«, protestierte Jo verzweifelt.
    »Deine Sturheit geht mir auf die Nerven«, zeterte Nina händeringend. Sie eilte die Stufen hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf.
    »Jackie!«, rief sie hektisch.
    Diese Auseinandersetzung mit Jo führte sie nun schon seit neun Monaten – seit sie ihrer Tochter gestattet hatte, nach der zehnten Klasse von der Schule abzugehen. Dabei hatte sie alles genau geplant. Wenn Jo nur nicht so störrisch wäre! Sie hatte genau die hohen Wangenknochen und den vollen Mund, die momentan gefragt waren und die Talentsucher begeisterten. Die Narbe ließ sich leicht überschminken oder mit einer Haarsträhne abdecken. Mit ihren wunderschönen aschblonden Locken und den dunkelvioletten Augen war Jo wie geschaffen als Aushängeschild für Yardley oder diese amerikanische Kosmetikfirma, über die Nina vor Kurzem etwas gelesen hatte. Sie hatte bereits angefangen, einige Leute anzusprechen.
    »Jackie«, begann Nina, als die Haushälterin herbeigeeilt kam. »Rufen Sie im Nagelstudio an, und verlegen Sie meinen Termin wieder auf morgen … Wenn Sie sich beeilen, erreichen Sie Vicky vielleicht noch im Salon.«
    Sie ließ Handtasche und Schlüssel auf das Marmortischchen in der Vorhalle fallen. Nachdem sie mit einem langen Seufzer in einen Wohnzimmersessel gesunken war, streifte sie die Schuhe ab und schloss die Augen.
    »Ich bin völlig erschöpft. Ein Königreich für eine Tasse Tee«, rief sie der davoneilenden Jackie nach.
    »Ich habe den Kessel schon aufgesetzt, Mrs Kingsford. Den Anruf erledige ich sofort«, erwiderte Jackie und schenkte Jo im Davoneilen ein rasches Lächeln.
    Jo ließ sich nicht ablenken.
    »Rick würdest du auch reiten lassen«, flehte sie. »Er hätte dich so lange bearbeitet, bis du ihm die Bahnarbeit wieder erlaubt hättest.«
    Von Jos Worten ruckartig aus ihren Tagträumen gerissen, schlug Nina die Augen auf.
    »Wie kannst du es wagen, das Andenken deines Bruders so in den Schmutz zu ziehen?«, fragte sie entsetzt und sah Jo entrüstet an.
    »Aber du hättest es ihm erlaubt, Mum, das weißt du ganz genau. Er durfte immer alles, weil er ein Junge war …«
    Blitzartig sprang Nina auf. Ihre Fäuste waren geballt, und ihre Augen glitzerten gefährlich.
    »So ein Gerede will ich nie wieder von dir hören«, brüllte sie. »Den ganzen lieben Tag lang kümmere ich mich um dich, und so dankst du es mir.«
    Sie bohrte sich den Finger in die Brust.
    »Dein Bruder ist tot«, schrie sie. »Habe ich wegen deiner Sturheit nicht schon genug mitgemacht? Begreifst du nicht, wie weh es mir tut, dich anzusehen?«
    Zitternd klopfte Nina sich ein Sofakissen zurecht.
    »Du wirst den Namen deines Bruders in diesem Haus nie wieder aussprechen.« Ihre Stimme bebte. »Wir werden uns an ihn als liebevollen Jungen und wegen der vielen Dinge erinnern, die er in seinem kurzen Leben geleistet hat. Du hast kein Recht, sein Andenken zu missbrauchen, um deine lächerlichen Problemchen zu lösen.«
    Entgeistert starrte Jo ihre Mutter an.
    »Er war mein Bruder, Mum. Mein Zwillingsbruder. Ich kann ihn nicht einfach vergessen«, stammelte sie. Die so lange aufgestaute Wut, Verzweiflung und Trauer stiegen in ihr hoch.
    »Du hast gehört,

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