Wohin der Wind uns trägt
gab es nur all diese dämlichen Regeln, die für Jungen und Mädchen unterschiedlich waren? Schließlich hatte sie Talent für das Pferdetraining und war der Arbeit auf der Rennbahn körperlich gewachsen. Pferdetrainerin war ihr Traumberuf. Wie oft hatte sie ihren Vater sagen hören, dass man nur dann Höchstleistungen erbringen konnte, wenn man das, was man tat, mit wahrer Leidenschaft betrieb.
»Ich will kein dämliches Fotomodell werden, sondern Pferde trainieren. Und das werde ich auch tun«, sagte Jo ärgerlich zu ihrem Spiegelbild und fuhr sich heftig mit der Bürste durch das verfilzte Haar.
Sorgen bereitete ihr auch die bevorstehende Schulabschlussprüfung. Dianne wollte am Vormittag vorbeikommen, um mit Jo Geschichte und Biologie zu pauken. Nina und Charlie hatten sich damit einverstanden erklärt, dass Jo am Ende des Jahres von der Schule abging, wenn sie einigermaßen annehmbar bei den Prüfungen abschnitt. Ihre bisherigen schulischen Leistungen gaben allerdings keinen Anlass zu großer Hoffnung. Die Schwierigkeiten schienen sich unüberwindbar vor Jo aufzutürmen.
Sie schleuderte die Haarbürste auf den Frisiertisch, kroch voll bekleidet unter die geblümte Bettdecke und zog sie bis über den Kopf. Schon zwei Sekunden später warf sie die Decke wieder beiseite, sprang auf und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Wenn diese ganzen Probleme ihren Grund nur darin hatten, dass sie ein Mädchen war, würde sie sich dagegen zur Wehr setzen. Immerhin gab es auch andere Frauen, die in der Welt der Pferderennen erfolgreich waren. Warum also nicht sie? Sie würde einen Weg finden.
Jo griff nach einem Gummiband, fasste ihr aschblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, eilte aus dem Zimmer und machte sich auf die Suche nach ihren Eltern. Charlie und Nina frühstückten gerade im von der Morgensonne hell erleuchteten Wintergarten. Der Raum duftete angenehm nach frischem Toast und Kaffee. Einen Stift in der Hand und die neueste Rennliste auf dem Schoß, telefonierte Charlie mit Ned Kelly, um ihm zu sagen, auf welche Pferde er bei den nachmittäglichen Rennen setzen sollte.
»Guten Morgen, Mum«, sagte Jo und küsste Nina auf die Wange. Dann blieb sie, die Hände in die Hüften gestemmt und mit dem Rücken zur Glasscheibe, stehen.
Nina blickte von ihrer Zeitschrift auf, und ihr Herz machte einen Satz. Auf den ersten Blick sah die schlanke, blasse Joanna mit ihrem zurückgebundenen Haar aus wie Rick.
»Geht es deiner Schulter besser, Schatz?«, fragte sie rasch, um sich von den Gedanken an ihren Sohn abzulenken. Joanna machte ihr Sorgen. Sie hatte abgenommen und aß viel zu wenig.
»Inzwischen wieder recht gut, danke, Mum. Es tut kaum noch weh«, erwiderte Jo. Sie straffte die Schultern, und ein entschlossenes Glitzern trat in ihre violetten Augen.
»Du machst ein Gesicht, als hättest du uns etwas mitzuteilen«, stellte Charlie fest, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.
Jo lachte.
»Wie schaffst du es nur immer, meine Gedanken zu lesen, Dad?«
»Nun, raus mit der Sprache«, forderte Charlie sie lächelnd auf.
Jo war wirklich ein sehr schönes Mädchen. Vielleicht hatte Nina doch nicht so unrecht damit, sie zu einer Modelkarriere zu drängen.
Jo holte tief Luft.
»Gran hat mich über die Schulferien nach Dublin Park eingeladen. Darf ich bitte hinfahren, Dad?«
Wenn man sie schon von der Bahnarbeit fernhielt, konnte sie wenigstens versuchen, so viel wie möglich über die Aufzucht und Pflege von Vollblutpferden zu lernen. Falls ihre Großmutter sie für begabt hielt, könnte sie ihre Eltern möglicherweise davon überzeugen, sie in Dublin Park arbeiten zu lassen.
»Gleich nach den Ferien finden die Prüfungen statt«, entgegnete Charlie langsam und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Er fing an, mit seinem Stift herumzuspielen. Der Gedanke, dass eines seiner Kinder mit Wayne in Berührung kommen sollte, verursachte ihm wie immer Unbehagen.
Zum Zeitpunkt von Sidney Kingsfords Tod hatte Dublin Park den Gipfel des Ruhmes erreicht und war eines der angesehensten Gestüte in New South Wales gewesen. Fünf Jahre lang hatte Charlie sich dafür abgerackert, dass das so blieb. Und dann hatte Wayne alles kaputt gemacht, und Elaine sah dabei zu. Charlie musste sich damals gegen beide durchsetzen. Er hatte nie verstanden, warum seine Mutter der Spielsucht seines Bruders mit so viel Verständnis begegnete. Nur aus Rücksicht auf seine zarte, einfühlsame Mutter bestand Charlie nicht auf einem Verkauf des
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