Wohin der Wind uns trägt
ordentliche Prise Landluft genau das Richtige für dich, damit du nicht mehr so blass um die Nase aussiehst.«
Er grinste breit.
»Natürlich werde ich mich bei deiner Großmutter erkundigen, ob du auch brav lernst.«
Jo stand reglos da.
»Das heißt: Ja, du darfst deine Großmutter besuchen. Bestimmt freut sie sich genauso wie du.«
Jos Miene hellte sich auf, und sie fiel ihrem Vater jubelnd um den Hals.
»Danke, Dad, danke, Mum. Ich liebe euch so sehr.« Sie umarmte beide nacheinander.
Erleichtert, dass die Auseinandersetzung wieder einmal hinausgeschoben war, griff Nina nach ihrem Telefonregister.
»Wenn dann alle zufrieden sind«, meinte sie mit säuerlicher Miene. Als sie Charlies warnenden Blick bemerkte, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Am besten rufe ich Wendy und John van Haast an. Bestimmt würden sie sich freuen, wenn du bei ihnen in Baerami Creek vorbeischaust. Sie haben eine Tochter in deinem Alter.«
»Du könntest uns ein paar Flaschen von ihrem neuen Rotwein mitbringen. Sie haben neben der Pferdezucht mit dem Weinanbau angefangen.« Charlie sah auf die Uhr.
»Was soll das mit Baerami Creek?«, fragte da eine Stimme.
Alle drehten sich um, und Bertie kam in den Wintergarten geschlendert. Er hatte einen beigen Pullover aus Bändchengarn lässig um die Schultern geschlungen.
»Bertie«, rief Nina und sprang auf, um ihn zu umarmen. »Wie schön! Warum gibst du uns eigentlich nie Bescheid, bevor du kommst?«
Während des Semesters lebte Bertie im St. John’s College der Universität von Sydney. Nina war immer froh, wenn er anrief oder der Familie einen Besuch abstattete, was allerdings sehr selten geschah. Charlie, dem Berties Schwäche für Pferdewetten ein Dorn im Auge war, hatte darauf bestanden, dass sein Sohn im Studentenheim lebte und lernte, sich sein monatliches Budget einzuteilen. Alle drei Monate musste Bertie seinem Vater eine Abrechnung vorlegen.
Während Bertie sich von seiner Mutter auf beide Wangen küssen ließ, wurde er von Jo argwöhnisch beobachtet. Ihr für gewöhnlich so selbstbewusster und immer zu Scherzen aufgelegter großer Bruder wirkte heute trotz seines strahlenden Lächelns verkatert, besorgt und eigenartig nervös. Seine Hände zuckten unruhig in den Hosentaschen, und er konnte seinen Eltern und seiner Schwester nicht in die Augen sehen.
»Hallo, Bertie. Was soll denn mit Baerami Creek sein?«, erkundigte Jo sich.
»Hallo, Schwesterherz. Eigentlich gar nichts. Ein paar Jungs aus meinem Semester haben vorgeschlagen, eine Woche Urlaub dort zu machen, bevor die Prüfungen beginnen.« Er breitete die Arme aus. »Ich weiß: ›Wer nicht zu büffeln beginnt, bevor die alte Jacaranda blüht, kann das Examen vergessen‹«, leierte er. Alle kannten die Legende, die sich um den alten Palisanderbaum auf dem Hauptplatz der Universität rankte.
»Also warst du fleißig und wirst bald so weit sein, es mit der ARV aufzunehmen, mein Sohn?«, meinte Charlie nickend.
Dabei musterte er seinen Ältesten prüfend, denn er ahnte, dass es sich nicht um einen Spontanbesuch handelte. Charlies gerichtliche Auseinandersetzungen mit der angesehenen australischen Rennvereinigung, der viele einflussreiche Persönlichkeiten angehörten, waren berüchtigt.
»Noch nicht ganz. Aber letztens habe ich bei einer Probeverhandlung, die einer unserer Dozenten organisiert hatte, einen großen Sieg errungen und den Staatsanwalt ordentlich zur Schnecke gemacht«, erwiderte Bertie mit einem verlegenen Auflachen.
»Was schmiedet ihr für große Pläne?«, wechselte er rasch das Thema und strich sich die dunkelbraune Haarlocke aus dem Gesicht, die ihm ständig in die Stirn rutschte. Er war attraktiv, groß, breitschultrig und hatte schwarze Augen, die ihm eine geheimnisvolle Ausstrahlung verliehen.
»Deine Schwester wird ihre Großmutter in Dublin Park besuchen«, antwortete Charlie kühl.
»Das ist alles?«, gab Bertie gelangweilt zurück, wobei er seinen Vater mit seiner Gleichgültigkeit noch weiter verärgerte.
Charlie war einerseits tief enttäuscht, weil Bertie sich so gar nicht für Vollblutpferde interessierte. Andererseits erleichterte es ihn, dass ihn offenbar nichts nach Dublin Park zog. So hatte er kaum Kontakt mit seinem Onkel. Bertie erinnerte Charlie nämlich in vielem an Wayne, was ihn nicht wenig besorgte. Außerdem erregten Berties unangemeldete Besuche meist sein Misstrauen, denn diese waren häufig mit einem Anliegen verbunden. Auch heute hätte er seinen letzten Dollar
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