Wohin der Wind uns trägt
angenehm warmen Atem des Pferdes an ihrer Hand, während der Hengst das ihm fremde Mädchen beschnupperte. Offenbar fand Jo Gnade vor seinen Augen, denn schon im nächsten Moment versuchte er, einen Knopf von ihrer Bluse abzukauen. Lachend wich sie zurück.
»Er mag dich«, bestätigte Elaine.
Sie verabschiedeten sich von dem Hengst und fuhren zu dem kleinen Ausguck, der einen freien Blick auf die Koppel links von Sir Lawrence’ Stall bot. Dort waren die Zuchtstuten untergebracht, die in drei Wochen ihre Fohlen zur Welt bringen würden; um diese Jahreszeit standen sie Tag und Nacht unter Beobachtung. Daneben befanden sich der Stall und die Koppel für die neugeborenen Fohlen und ihre Mütter, die Jo bei ihrer Ankunft gesehen hatte.
»Immer noch derselbe alte Wachturm«, sagte Elaine, die sich von hinten genähert hatte. »Es ist früh für die Jahreszeit, aber letzte Nacht ist bereits ein Fohlen geboren worden, das ein wenig Hilfe brauchte.«
Fröstelnd in dem leichten Wind, der am späten Nachmittag aufgekommen war, kuschelte sie sich fester in ihre Jacke.
»Weißt du noch, wie ich dir an deinem vierten Geburtstag erlaubt habe, die neugeborenen Fohlen zu bewachen? Du warst so aufgeregt, dass ich befürchtet habe, ich würde dich am Abend gar nicht mehr ins Bett kriegen. Und als du älter wurdest, hat sich nichts daran geändert.«
Fröhlich lachte Jo auf und schlenderte Arm in Arm mit ihrer Großmutter zurück zum Haus. In der sich rasch abkühlenden Luft röteten sich ihre Wangen.
»Ich rufe später Linda an«, schlug Elaine vor. »Sie soll dir morgen die trächtigen Stuten zeigen. Vielleicht möchtest du sie ja auf ihren Rundgängen begleiten.«
»Das wäre schön. Lässt du mich auch eine Nacht die Stuten bewachen?«, fragte Jo und wirbelte um die eigene Achse. Inzwischen fielen lange Schatten wie dunkle Finger über die Koppeln, und die untergehende Sonne tauchte die Hügel in einen goldenen Schein. Es war so ein idyllisches Fleckchen Erde.
»Ich habe deiner Mum zwar versprochen, dass ich dich dazu anhalten werde, für die Schule zu lernen, aber das kriegen wir schon hin.« Elaine lächelte.
Beim Abendessen sah Jo zum ersten Mal seit der Beerdigung ihren Onkel wieder. Wayne, der gerade vom Sägewerk zurückgekehrt war, nahm an dem Tisch aus poliertem Zedernholz Platz, erzählte Elaine von seinen Plänen für die Renovierung einer der großen Scheunen, zeigte ihr eine grobe Skizze, die er für die Umbauarbeiten angefertigt hatte, und legte ihr die Rechnung für das Baumaterial vor.
»Es ist an der Zeit, dass wir sämtliche Gebäude auf dem Gestüt in Ordnung bringen«, sagte Elaine leise und nickte zustimmend.
Jo beobachtete die beiden aufmerksam. Für sie stand fest, dass ihr Onkel kein wirkliches Interesse an Pferden oder dem Gestüt hatte, sondern nur widerstrebend Anweisungen ausführte. Ihr lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Waynes Blick war ausdruckslos, sein Lächeln gekünstelt und verkniffen. Er richtete einige barsche Bemerkungen an sie und verbreitete eine Kälte, die dafür sorgte, dass Jo sich unerwünscht fühlte. Deshalb war sie froh, dass er sich nach dem Essen rasch verabschiedete.
Vor dem knisternden Kaminfeuer führten Elaine und Jo ein langes Gespräch unter vier Augen. Zögernd begann Jo, von Rick zu erzählen, und durch Elaines mitfühlendes Nachfragen gelang es ihr endlich, die Schutzmauern beiseite zu räumen, die sie seit dem Tod ihres Bruders um sich errichtet hatte. Mit ihrer Großmutter empfand sie eine Vertrautheit, die sie bei ihrer Mutter oft so schmerzlich vermisste. Allein Ricks Namen aussprechen zu dürfen, bedeutete eine unbeschreibliche Erleichterung.
»Er hat verstanden, wie sehr ich Pferde liebe … Wir hatten schon alles geplant«, gestand Jo. »Ich wollte die Pferde ausbilden, die er dann reiten sollte. Und wenn wir einmal heiraten würden, dann nur Menschen, die sich mit Rennpferden auskannten und sie ebenso liebten wie wir.«
Jos naive Weltsicht löste bei Elaine ein nachsichtiges Schmunzeln aus. Sie war froh, dass ihre Enkelin, die sie in ihrer eindringlichen und ernsthaften Art so sehr an Charlie erinnerte, ihr das Herz ausschüttete. Bertie hingegen schien – zwar nicht äußerlich, aber dem Wesen nach – eher nach Wayne geraten zu sein. Hoffentlich hatte ihr ältester Enkel nicht auch die Leichtfertigkeit in finanziellen Dingen und das sprunghafte und wenig weitsichtige Geschäftsgebaren von seinem Onkel geerbt.
Nachdem Wayne damals
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