Wohin der Wind uns trägt
Strohhalm das Eis in ihrem Cinzano mit Limonade herum, den der Kellner serviert hatte. Dann trank sie einen kleinen Schluck. »Schade, dass wir uns nicht schon vor einer Woche über den Weg gelaufen sind. Ich habe gerade die neue Mailänder Kollektion gezeigt. Die Italiener haben eine Schwäche für bunte Farben.«
Sie zog einige Hochglanzbroschüren heraus, reichte sie herum, nahm einen ihrer gewaltigen Ohrclips ab, rieb sich das Ohrläppchen und befestigte das Schmuckstück wieder.
»Wenn die Mädchen das mit dem Modeldasein wirklich ernst meinen, sollten sie meine neuen Badeanzüge anprobieren. Ich bin immer auf der Suche nach jungen Gesichtern.«
»Ich würde nie von dir verlangen, die beiden einzustellen«, fiel Nina ihr rasch ins Wort.
»Das weiß ich, Nina, und vielleicht bin ich ein bisschen voreilig. Aber jetzt musst du mir erzählen, was in letzter Zeit bei euch los war. Warum wolltest du mich anrufen?«
Nina errötete. Sie hatte sich zwar alles zurechtgelegt, doch eine Freundin, die sie seit über vierzehn Jahren nicht gesehen hatte, um einen Gefallen zu bitten, wäre ihr am Telefon leichtergefallen.
»Hm, am besten nehme ich kein Blatt vor den Mund. Ich wollte dich fragen, ob die beiden ein paar Wochen bei dir in Paris wohnen könnten, bis sie sich eingewöhnt haben. Natürlich könnten wir ihnen auch ein Apartment suchen …«
»Aber natürlich, meine Liebe«, erwiderte Jenny rasch und hinderte Nina daran, sich weiter zu entschuldigen. »Wir können frischen Wind bei uns gebrauchen. Ich bin zwar viel unterwegs, Nina, aber Claudette wird sich um die Mädchen kümmern, wenn ich auf Reisen bin. Sie ist meine Haushälterin und für uns alle wie eine Ersatzmutter. Ich weiß nicht, was mein Mann ohne sie anfangen würde, in Haushaltsdingen ist er so schrecklich unpraktisch. Und für meinen Sohn Jacques wäre es auch schön, mit jungen Leuten zusammen zu sein. Vielleicht schafft es eine von euch beiden ja, ihn dazu zu überreden, schon vor dem Mittagessen aufzustehen. Er ist neunzehn«, beendete sie mit einem spitzbübischen Grinsen den Satz, als sie sah, wie die beiden Mädchen aufmerkten.
Dankbar drückte Nina ihrer Freundin den Arm.
»Jenny, du bist wirklich eine gute Freundin. Auf dich ist immer Verlass. Bestimmt kommen die Mädchen in Paris zurecht.«
Nach dem dritten Cinzano und einem Eis für die Mädchen war alles abgemacht. Nina würde mit Jo und Emma einen dreiwöchigen Urlaub an der Côte d’Azur verbringen und anschließend mit ihnen nach Paris fliegen. Nachdem sie sie bei Jenny und ihrer Familie abgeliefert hatte, wo die Mädchen die nächsten sechs bis zwölf Monate verbringen sollten, könnte Nina nach Australien zurückkehren.
Bevor sie sich verabschiedeten, nannte Jenny Nina noch einige Modelagenturen und Designer in Italien, Frankreich und Griechenland, an die sie sich wenden konnten.
»Nicht zu fassen, dass wir Jenny so zufällig über den Weg gelaufen sind. Das Leben steckt eben voller Überraschungen«, meinte Nina nach ihrer Rückkehr ins Hotel mit einem zufriedenen Seufzer.
Selbst Jo musste zugeben, dass ihnen der Einstieg leicht gemacht wurde. Während sie über die Dächer von Mailand hinwegblickte, spielte sie kurz mit dem Gedanken an Ferien bei Tante Sarah in England. Aber sie entschied sich dagegen. Nina war fest entschlossen, ihnen einen Luxusurlaub in der Sonne zu spendieren. Und da sie Pferde nun einmal nicht ausstehen konnte, war es nicht sehr ratsam, sie zu verärgern, wo sie sich momentan alle so gut verstanden.
»Weißt du, Emma, ich freue mich beinahe auf Paris«, gestand Jo und hakte ihre Freundin unter.
Nachdem sie Nina zum Abschied zugewinkt hatten, gingen sie die Stufen der Villa Pierrefeu hinauf. Oben blieb Jo stehen und ließ den Blick schweifen.
»Nur die wunderschönen Berge werden mir fehlen.«
In den nächsten drei Monaten hatten die beiden kaum Zeit, sich den Kopf über die Zukunft zu zerbrechen, da sie zwischen den verschiedenen von der Schule veranstalteten Exkursionen für die Abschlussprüfungen büffeln mussten.
Nur in ihrer Freizeit, beim Reiten oder beim Tennis hatten sie Gelegenheit, ihren Tagträumen nachzuhängen, und ehe sie es sich versahen, war ihre Schulzeit in Pierrefeu fast vorbei.
»Morgen fängt das Leben an«, flüsterte Emma Jo in perfektem Französisch zu, als die zwei Mädchen bei der Abschlussfeier in der Schlange darauf warteten, ihre Diplome entgegenzunehmen.
Jo trat auf die Bühne, die zu diesem Anlass im großen
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