Wohin der Wind uns trägt
Speisesaal aufgebaut worden war, und hielt zwischen den vielen Anwesenden Ausschau nach ihrer Mutter. Diese war eigens zur Feier aus Australien eingeflogen und tupfte sich die Augen.
Wie sehr hätte Jo sich gewünscht, ihr Vater wäre auch gekommen, aber ihr Verhältnis war immer noch ziemlich kühl, auch wenn sie in den letzten beiden Monaten ein paar Mal mit ihm telefoniert hatte.
Beim Anblick der stolzen Miene ihrer Mutter wuchs Jos Entschluss, im nächsten Jahr Erfolg zu haben.
Emmas Tante Sarah, die neben Nina saß, strich sich die Handschuhe glatt. Sie bedauerte, dass ihre Schwester so wenig Anteil am Leben ihrer Tochter nahm. Emma Banford hatte eine glänzende Zukunft vor sich, davon war Sarah überzeugt. Und wenn das sogar einer wildfremden Frau, darüber hinaus noch einer Australierin, auffiel, hätten Emmas eigene Eltern das doch eigentlich auch bemerken müssen. Emma besaß Tatendrang, Unternehmungslust und Schönheit und würde es weit bringen. Und nun hatte sie dank ihrer australischen Freundin eine Unterkunft und die Möglichkeit, in den Sommerferien ein wenig Geld zu verdienen. Sarah hatte sich zwar schon auf Emmas und Jos Besuch gefreut, aber das würde wohl warten müssen.
Sarah applaudierte, als die Schülerinnen ihr Diplom entgegennahmen und in die Kamera lächelten. Sie beschloss, sich ein Wochenende in Frankreich zu gönnen, um diese Bademoden-Designerin unter die Lupe zu nehmen. Joanna Kingsfords Blick hatte etwas an sich, das ihr nicht gefiel – er verbarg etwas. Sie würde ein Wörtchen mit Emma reden. Vielleicht konnte Jo Weihnachten bei ihnen verbringen, wenn sie über die Feiertage nicht nach Australien flog. Die Mutter der Kleinen schien ständig durch die Weltgeschichte zu flattern, als befürchte sie, sie könnte etwas verpassen. Doch da Sarahs eigene Schwester genauso war, konnte sie ihr schlecht einen Vorwurf machen. Dennoch gefiel ihr nicht, dass die Familie ihr Geld mit Rennpferden verdiente. Sie würde ein Auge auf ihre Nichte und deren australische Freundin haben.
Strahlend hakte Jo ihre Mutter unter und ging mit ihr hinaus in den Sonnenschein. Die Abschiedsworte der Direktorin hallten ihr noch in den Ohren: »Wir haben unser Möglichstes getan, um Sie auf die Welt vorzubereiten. Nun sind Sie an der Reihe.« Sie sah sich nach Emma um, und die beiden jungen Frauen lächelten sich über die Menschenmenge hinweg zu. Endlich hatten sie die Schule hinter sich, und Jo war froh, den nächsten Schritt nicht allein tun zu müssen.
9
Sonnengebräunt vom Urlaub an der Côte d’Azur und ein wenig atemlos, ließ Jo die Einkäufe erleichtert auf den Tisch fallen, der mitten in der Küche von Jenny Coopers Wohnung unweit des Pariser Bois de Boulogne stand. Es war Anfang September. Nina war Ende August nach Australien zurückgekehrt, und Emma hatte einen Fototermin in Florenz. Wegen des defekten Aufzugs war es ein ziemlich weiter Weg in den vierten Stock. Jo schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie an einen der vielen handgeschnitzten Haken, die Jenny auf den Flohmärkten der ganzen Welt zusammengekauft hatte. Dann packte sie Baguette, Käse, Gemüse und Landwein aus. Der Duft reifen Roqueforts zog durch den Raum.
Jenny war zwar eine erfolgreiche Modeschöpferin, hatte es aber nicht nötig, zu Hause die elegante Geschäftsfrau zu mimen, die Jo in Mailand kennengelernt hatte. Diese Gegensätze spiegelten sich in ihrer Wohnung wider. Dort teilten sich wertvolle Antiquitäten und Gemälde den Platz mit Kitsch und Krimskrams. Dieser lässige Stil gefiel Jo zwar sehr gut, fand aber weniger Gnade vor den Augen von Jennys französischem Ehemann Louis Bercy. Insbesondere die Küche, deren großes Fenster auf eine belebte Straße hinausging und in der Zwiebel- und Knoblauchzöpfe, Töpfe und Pfannen an riesigen Fleischerhaken hingen, war für Jo in dieser fremden neuen Welt stets ein Zufluchtsort gewesen.
»Du siehst heute Morgen ziemlich niedergeschlagen aus, chérie«, sagte Jenny, die aus ihrem Atelier neben der Küche hereingeeilt kam.
Sie hatte einige Stoffstücke, eine Schachtel mit Stecknadeln und ein Schnittmuster ihres neuesten Badeanzugentwurfes in der Hand. Da sie seit fast zehn Jahren in Paris lebte und sich beruflich oft in Italien aufhielt, sprach sie inzwischen häufiger Französisch und Italienisch als Englisch. Bunte Fadenstückchen klebten an ihrer weiten Bluse und dem Folklorerock. In ihrem Haar steckte ein Stift. Jenny schaltete die Kaffeemaschine ein.
»Ich war heute
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