Wohin der Wind uns trägt
alles bewerben, während du auf Aufträge als Fotomodell wartest. Die Bezahlung ist zwar ziemlich miserabel, aber auf diese Weise lernst du die Leute in der Branche kennen – und sie dich. Australierinnen sind sehr beliebt, weil sie als fleißig gelten.«
Sie sah Jo an.
»Überlass den Abwasch Claudette und häng dich ans Telefon, solange du in der richtigen Stimmung bist«, befahl sie.
»Ach, Jenny, du machst einem immer wieder Mut«, antwortete Jo. Ihre Schultern entspannten sich, und sie trocknete sich rasch die Hände ab. Für sie war es das Allerschlimmste zu versagen, und da sie sich entschlossen hatte, Fotomodell zu werden, wollte sie auch Erfolg haben. Also eilte sie in den Flur hinaus. Nach dem dritten Anruf legte sie verdutzt den Hörer auf und lief in Jennys Atelier, um ihr alles zu berichten.
»Ich habe die Moderedakteurin von Elegance Internationale erreicht. Ihre Assistentin ist krank, und sie braucht in den nächsten beiden Wochen dringend eine Vertretung«, rief Jo aus. »Ich soll sofort zum Vorstellungsgespräch kommen.«
»Siehst du, chérie«, erwiderte Jenny lachend und hielt beim Auseinanderschneiden eines Stoffstücks inne. »So bist du wenigstens beschäftigt. Vielleicht kriegst du sogar eine feste Stelle.«
Zwei Stunden später kehrte Jo zurück, grinsend wie ein Honigkuchenpferd.
»Rate, was passiert ist! Ich habe den Job – auf Dauer. Noch während ich beim Vorstellungsgespräch war, rief das andere Mädchen an und hat gekündigt.«
Ihren ersten Tag als Assistentin von Jutta Utz, der ausgesprochen tüchtigen und ziemlich aufbrausenden Moderedakteurin von Elegance Internationale, verbrachte Jo damit, die bei Juttas letztem Fototermin benutzten Kleider zu verpacken und an die verschiedenen Designer zurückzuschicken. Während Jo in dem großen, mit Kleiderständern voll gestellten Raum Kleidungsstücke faltete und in Folie verstaute, telefonierte Jutta fast pausenlos und unterbrach die Gespräche nur, um sich eine Tasse Kaffee nach der anderen bringen zu lassen. Riesige Poster von Fotomodellen, die bei verschiedenen Pariser Agenturen unter Vertrag waren, blickten von den Wänden auf Jo herunter. Einige davon kannte sie aus Jean François’ Büro. Von ihr selbst war kein Foto dabei.
»Sie sind bestimmt Juttas neue Assistentin«, sagte eine kleine, pummelige junge Frau, deren krauses, mausbraunes Haar einem zerfledderten Haarband zu entkommen versuchte. Jo war wieder einmal in die winzige Küche gelaufen, um für Jutta eine Tasse Kaffee zu holen. Die Frau öffnete ein Päckchen und bot Jo einen Keks an.
»Zum Glück haben sie diesmal jemanden genommen, der klein ist und nicht magersüchtig aussieht. Da werden Sie sicher ein bisschen länger bleiben als die beiden letzten. Die waren eine Katastrophe und haben die Stelle nur angenommen, um durch Jutta an Aufträge als Fotomodell heranzukommen. Ich hätte ihnen gleich sagen können, dass sie nur ihre Zeit verschwenden«, meinte die Frau und griff nach zwei Kaffeetassen und einen Teller mit Keksen. »Jutta nimmt nur bestimmte Mädchen und ist sehr wählerisch.«
Jo errötete und fühlte sich ertappt.
»Viel Spaß bei der Arbeit. Sie wird Sie ganz schön auf Trab halten.«
Bald fand Jo heraus, dass fast die gesamte Redaktion vor Jutta zitterte. Bei ihren Assistentinnen herrschte ein reger Wechsel, was niemanden wunderte. Jutta war reizbar, Kettenraucherin und viel unterwegs, um sich mit Designern zu treffen, Modeveranstaltungen zu besuchen und Fototermine zu arrangieren. Außerdem war sie eine Freundin rascher Entscheidungen, nahm ihre Assistentinnen nur zur Kenntnis, wenn sie sie herumkommandierte, und schrie jeden an, der nicht schnell genug spurte.
Jo, die Ninas aufbrausende Art gewöhnt war, ließ sich nur selten aus der Ruhe bringen, wenn Jutta ihr wieder einmal tausend Dinge gleichzeitig auftrug, und ging alles mit Gelassenheit an. Bald war ihr Leben fast ebenso ruhelos wie Juttas. Sie klapperte im Redaktionsbus die Warenlager von Paris ab, um die für den nächsten Modebericht – so hießen die vier- bis achtseitigen Artikel – bestimmten Kleider abzuholen. Sie half ihrer Chefin, sie auf dem Boden des Ateliers auszubreiten. Jo kombinierte Röcke und Jacken verschiedener Designer mit Oberteilen und Schals aus dem riesigen Fundus, der rings um sie herum auf Ständern hing, und holte Handtaschen und Modeschmuck aus dem Lager herbei, bis Jutta mit dem Ergebnis zufrieden war. Anschließend rief Jo sämtliche Designer an, um
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