Wohin der Wind uns trägt
Familienfoto, das neben ihrem Bett stand. Sie musste zugeben, dass Jennys Rat vernünftig war. Außerdem gestattete ihr Stolz nicht, das Handtuch zu werfen, bevor sie nicht zumindest einen guten Auftrag ergattert hatte.
Ein paar Tage später unterhielt Jo sich mit Simone, einem Mädchen, das häufig für Jutta arbeitete, und deutete an, dass sie selbst Aufträge als Fotomodell suchte.
»Geh weg von Jean François, wenn er dich schlecht behandelt. Jeder weiß, dass er seine Lieblinge hat«, meinte Simone, nachdem sie Jo den Namen ihres Agenten entlockt hatte. Da Jutta bereits nach den Mädchen rief, drückte Simone Jo rasch eine Karte in die Hand. »Ruf meine Agentin an und sag ihr, dass du eine Freundin von mir bist. Sie sucht Talente auf der ganzen Welt und ist deshalb viel unterwegs. Aber sie ist sehr nett, und ihre Agentur befindet sich im Aufwind.«
Sie lächelte Jo zu und ging durch den Raum auf den Dressman zu, den Jutta ausgesucht hatte.
Jo las den Namen auf der Karte: Jean Curie, Modelagentur. Das klang nicht so schick wie viele der anderen Agenturen, und auch die Karte war weniger aufwendig gestaltet. Aber es war vielleicht die Chance, auf die Jo gewartet hatte.
Am nächsten Tag war Jutta nicht im Büro. Jo rief Jean Curie an und vereinbarte einen Termin mit ihr. Nicht nur von Jos Mappe, sondern auch von ihrem Anblick positiv beeindruckt, vermittelte Jean Curie ihr kleine Aufträge. Es handelte sich um bescheidene Einsätze, die etablierte Fotomodelle abgelehnt hatten, aber Jo kannte keinen falschen Stolz und war froh, endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Als Jean ihr einen Auftritt bei der Eröffnungsveranstaltung einer kleinen Kosmetikfirma vermittelte, war Jo außer sich vor Freude. Die Einstellung ihrer Agentin gab ihr wieder neuen Mut. Jean Curie war von Jos frischem australischem Teint und den ausdrucksstarken violetten Augen begeistert, während ihre mangelnde Körpergröße sie weniger zu stören schien. Allerdings kamen die Aufträge noch zu unregelmäßig, als dass Jo bei Elegance Internationale hätte kündigen können. Doch sie fühlte sich wieder zuversichtlich und der Arbeit für Jutta gewachsen.
Kurz vor Sonnenaufgang an einem kühlen Morgen Anfang Oktober blinzelte Jo schläfrig mit den Augen und klammerte sich an ihren Sitz im Garderobenbus von Elegance Internationale fest, der von Jutta mit der typischen Pariser Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben durch die Stadt gesteuert wurde. Dabei spulte Jutta eine endlose Liste von Anweisungen für Jo hinunter. Auf der rasenden Fahrt durch die Straßen der Stadt schwankten die Kleider an ihren Ständern gefährlich hin und her. Als der Wagen rasant um die Kurve vor Le Pont Alexandre III einbog, war Jo endgültig wach. Jutta lenkte das Fahrzeug einfach auf den Gehweg, hielt unter einer der schmiedeeisernen Laternen der Brücke und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Ihr Gesicht war bleich vom Schlafmangel. Sie griff nach ihren Notizen. Beim Aussteigen schlug Jo frühmorgendliche Herbstluft entgegen. In ihre Jacke gekuschelt, betrachtete sie die im Schatten liegenden Ufer der Seine. Kalter Wind blies ihr ins Gesicht und fegte ein paar herabgefallene Blätter über die Brücke.
Bis zum Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe von Elegance Internationale waren es nur noch wenige Tage. An diesem Morgen sollten in aller Eile die letzten Aufnahmen für Juttas nächsten Artikel mit dem Titel »Elegante Abendmode« gemacht werden; und zwar mit Brigitte, die aufgrund ihrer zahlreichen Verpflichtungen den Termin mit Jutta nur zu dieser Uhrzeit hatte einschieben können. Jo wusste nicht, was schlimmer war: die lautstark auf Französisch geführten Debatten, das ständige Telefongebimmel, die Designer, die ihre Kleider zurückforderten, die Tatsache, dass sie selbst wegen ihrer Nebentätigkeiten nur drei Stunden geschlafen hatte, oder das Herumstehen in der Morgenkälte mit Jutta. Diese war völlig außer sich, weil die Aufnahmen eigentlich bereits seit drei Wochen erledigt sein sollten.
Jo blickte sich um und mutmaßte, ob Emma wohl gerade irgendwo in Florenz in der Morgendämmerung herumlief. Jutta stand an der Motorhaube des Wagens, zündete sich an der glühenden Kippe die nächste Zigarette an und sprach mit André, dem Maskenbildner, der gerade angekommen war. Jo rümpfte wegen des Zigarettenrauchs, der sich in ihren Sachen festzusetzen schien, angewidert die Nase. Dann kletterte sie in den Transporter, um
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