Wohin die Liebe führt
Ding«, sagte er leise. »Sie ist nicht viel mehr als ein Kind.« Er sah mir wieder ins Gesicht.
»Warum sind Sie gekommen, Mister Carey?«
»Um etwas über Ihren Sohn zu erfahren.« Seine Augen weiteten sich. »Nein, nicht um Schlechtes über ihn zu hören«, fügte ich rasch hinzu. »Sondern um mehr von meiner Tochter zu wissen, Mister Riccio.«
»Schämen Sie sich nicht, Mister Carey«, sagte er freundlich. »Es ist nur richtig, daß Sie Ihrer Tochter helfen wollen.«
»Ich danke Ihnen, daß Sie mich verstehen, Mister Riccio.«
»Also - was möchten Sie wissen?«
»Hatte Ihr Sohn Freunde, die ihm nahestanden?«
Er zuckte die Achseln. »Freunde? Anna, die er heiraten wollte, wäre gern seine Freundin gewesen. Seine Brüder Steve und John wären gern seine Freunde gewesen. Aber er wollte von ihnen nichts wissen. Er wollte ein feiner Herr sein.« Der Alte lächelte bitter, seine Augen umwölkten sich bei der Erinnerung. »Als Tony ein kleiner Bub war, hat er oft zu mir gesagt: >Pop, Pop, sieh mal dort raus, weg vom Hafen, da oben hin, nach Nob Hill. Da oben werd’ ich eines Tages wohnen. Da oben riechst du nichts mehr von den Fischen.<
Ich hab’ gelacht. >Tony<, hab’ ich gesagt, >geh und mach deine Schularbeiten. Spiel Baseball wie ’n guter Junge. Vielleicht wirst du dann einmal so wie die Brüder Di Mag und kaufst deinem Pop ’n großes Restaurant am Kai. Hör auf zu träumen.<
Aber Tony hat immer weiter geträumt. Als er fertig war mit der Schule, hat er nicht Baseball gespielt wie die Brüder Di Mag. Ein Künstler wollte er sein! Er ließ sich ’n Bart wachsen und saß im Kaffeehaus herum. Er kam jeden Abend spät heim und schlief jeden Morgen lange. Er fuhr nicht mit dem Boot raus wie seine Brüder. Seine Hände waren ihm zu zart. Als er zwanzig war, kriegte er ’n Job bei ’ner Kunsthändlerin. Bei ’ner dicken Dame. Ein Jahr später kriegte er einen anderen Job. In ’nem großen Laden diesmal. In der Nähe von Gumps.
Und eines Tages kommt er mit ’ner feinen Dame zu meinem Stand. Hübsch war sie. >Das ist die Frau von meinem Boß<, sagt er. Sie essen Garnelen und knacken Krebse und lachen wie zwei Kinder. Dann gehn sie weg. Kurz darauf les ich in der Zeitung, sie lassen sich scheiden, der Boß und die Frau. Ich mach mir Sorgen um meinem Tony seinen Job, aber eines Tages kommt er runter zu meinem Stand mit ’nem funkelnagelneuen Wagen. Teuer. Kein amerikanischer, ’n ausländischer.
>Pop<, sagt er, >ich hab’s geschafft. Jetzt arbeit ich für den Boß seine Frau. Sie ist ’ne große Nummer. Geld wie Heu. Und weißt du, wo ich wohne?<
>Nein<, sag ich, >wo wohnst du denn, Tony?<
Da zeigt er rauf zum Berg. >Genau da oben, Pop<, sagt er. >Auf dem Nob Hill, wie ich’s immer gewollt hab’. Und weißt du, was noch stimmt, Pop? Da oben riechst du keinen Fisch mehr.<«
Der Alte sah hinüber zu dem Sarg, dann wieder zu mir.
»Von dort aus kann Tony den Fisch auch nicht riechen. Von dort aus kann er gar nichts mehr riechen, mein Tony.«
Ich blieb noch ein Weilchen schweigend sitzen, dann stand ich auf. »Es war sehr gütig von Ihnen, daß Sie mit mir gesprochen haben, Mister Riccio. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie in. in einer solchen Stunde gestört habe.«
Er sah zu mir auf und nickte, aber schon waren seine Augen weit fort. Er blickte wieder auf den Sarg, und seine Lippen bewegten sich stumm. »Ich werde auch für Ihre Tochter beten«, sagte er. »Wie für meinen Sohn.«
Ich trat zu dem Mädchen. »Miss Stradella.«:
Sie warf einen Blick auf den Alten, aber der schaute wieder zum Sarg. Plötzlich wurden die Augen in ihrem Gesicht lebendig. »Warten Sie draußen auf mich«, flüsterte sie.
Ich sah sie eine Sekunde erstaunt an, dann nickte ich und ging hinaus. Im Vorraum kam ich bei dem jüngeren Sohn vorbei. Er starrte mich an, als ich vorbeiging, und trat dann in den Aufbahrungsraum.
Ich wartete nicht auf den Lift, sondern ging die Treppen zur Straße hinunter.
An den Wagen gelehnt, wartete ich. Sie kam auf die Straße und sah sich suchend nach mir um. »Miss Stradella!« rief ich.
Schnell kam sie zum Wagen. Als sie vor mir stand, drehte sie sich um und sah noch einmal zurück nach dem Bestattungsinstitut. »Es ist besser, wenn wir uns in den Wagen setzen. Steve und sein Vater müssen jeden Augenblick herauskommen. Ich möchte nicht, daß sie uns miteinander sprechen sehen.« Ich öffnete die Wagentür. Sie stieg ein. Ich machte die Tür zu, ging um den Wagen auf die andere
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