Wohin die Liebe führt
schicken.« Marian schwieg.
»Etwas anderes kann ich gar nicht tun. Wir dürfen keinerlei Risiko laufen. Wir müssen sicher sein, daß das Kind nicht wirklich gestört ist, keine Anlage zu echter Geisteskrankheit zeigt, ehe wir es wieder in ein Leben zurücklassen, das auch nur einigermaßen einem normalen Dasein gleicht.«
Marian hörte die Enttäuschung in Sallys Stimme. »Vielleicht wird es nicht nötig sein, Sally. Vielleicht wird sie heute nachmittag wenigstens anfangen zu sprechen.«
»Ich hoffe es«, sagte Sally mit Nachdruck. »Wann gehst du zu Danis Mutter?«
»Heute nachmittag. Und nun muß ich mich beeilen.«
Am Nachmittag folgte Marian dem Diener durch die große Halle, an einer herrlich geschwungenen Marmortreppe vorbei durch einen Flur, der zu einem anderen Flügel des Hauses führte. Was für ein schönes Haus, dachte sie, wie anders als die Behausungen, in die ihre Nachforschungen sie gewöhnlich führten. Alles hier deutete auf einen sicheren künstlerischen Geschmack der Menschen, die hier wohnten.
Am Ende des Ganges öffnete der Diener eine Tür. »Bitte, treten Sie ein, Madam. Miss Hayden erwartet Sie.«
Das Atelier war groß und sonnig, die Nordwand ganz aus Glas. Marian konnte den Hafen sehen, die Bay Bridge und dahinter Oakland.
Nora arbeitete vor dem Fenster; sie hatte einen funkensprühenden Schweißbrenner in der Hand. Ihr Gesicht war von einer schweren Schutzmaske verdeckt. Sie trug einen ausgeblichenen, fleckigen Overall und dicke Handschuhe. Sie sah zu Marian hinüber. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie. »Ich komme gleich.« Ihre Stimme war durch die Maske gedämpft.
Marian nickte und beobachtete sie. Sie arbeitete mit dünnen Stahlbändern, die sie rasch und gewandt auf ein Metallgerippe schweißte. Der Umriß war noch zu undeutlich, als daß Marian hätte erkennen können, was es werden sollte. Sie drehte sich um und hielt im Atelier Umschau. Auf den Tischen standen Skulpturen und Statuen, alle in verschiedenen Arbeitsstadien. Holz, Stein, Metall, Draht. Alles, was sich durch eine menschliche Hand formen läßt. An einer großen Wand eine Reihe gerahmter Fotos und Skizzen. Marian ging hin und betrachtete sie.
Da war eine große Kohleskizze, der Originalentwurf für den > Sterbenden Manne, der jetzt in New York im Guggenheim-Museum stand. Daneben ein Foto der >Frau im Netze, mit der sie den Eliofheim-Preis gewonnen hatte. Höher an der Wand ein Riesenfoto des steinernen Basreliefs friedlich ist die Welt der Frauc, das ihr die Vereinten Nationen in Auftrag gegeben hatten. Außerdem mehrere Skizzen und Fotos von Werken, die Marian nicht kannte.
Sie hörte ein metallisches Geräusch und sah sich um. Nora löschte die Flamme des Schweißbrenners. Mit einem zischenden blauen Strahl ging sie aus, dann legte Nora den Brenner beiseite. Sie schob die Maske hoch und zog die Handschuhe aus. »Es tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe, Miss Spicer. Aber manche Dinge können einfach nicht warten.«
Marian antwortete nicht. Sie wartete auf die nächste Frage. Die unvermeidliche. Wie geht es Dani? Sie kam nicht.
Statt dessen zog Nora die Maske vollends ab. Ihre Hände hinterließen dabei einen schwarzen Fleck auf ihrer Wange. »Ich bin mit meiner Arbeit zurück. Die ganze Affäre hat meine Arbeitseinteilung umgeworfen.« »Ich werde mich bemühen, Sie nicht lange aufzuhalten«, sagte Marian.
Nora sah sie an. Marian wußte nicht, ob sie den Sarkasmus ihrer Antwort erfaßt hatte. »Wir können Tee trinken, während wir uns unterhalten.« Sie drückte auf einen Klingelknopf in der Nähe ihrer Werkbank.
Unmittelbar darauf trat der Diener in die Tür. »Bitte, Madam?«
»Wir möchten Tee, Charles.«
Er nickte und schloß die Tür. Nora ging zu einer kleinen Couch, die mit einem Teetisch und ein paar Sesseln als Plauderecke eingerichtet war. »Bitte, setzen Sie sich.«
Marian setzte sich ihr gegenüber.
»Ich nehme an, Sie wollen mit mir über Dani sprechen.«
Marian nickte.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll.« Nora nahm sich eine Zigarette aus einem Kästchen auf dem Teetisch. »Dani ist nämlich ein höchst alltägliches Kind.«
Marian wußte nicht, ob Nora dies als positives oder negatives Urteil meinte. Es klang fast, als betrachte sie Dani als eine Art von Versager. »Die >Alltäglichkeit< ist bei jedem Kind verschieden«, sagte sie. »Wir haben bereits festgestellt, daß Dani ein hochintelligentes und aufnahmefähiges Kind ist.«
Nora sah sie an.
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