Wohin die Liebe führt
wußte, ob ich an ihrer Tür gewesen war oder nicht.
Falls Nora daran etwas merkwürdig fand, so sagte sie nie ein Wort darüber. Die Zeit verging, und Nora schien mit dem Stand der Dinge zufrieden zu sein. Sie war in ihre Arbeit vertieft, und mehrmals wöchentlich ging sie zu Treffen mit anderen Künstlern oder zu Dinners. In anderen Nächten arbeitete sie in ihrem Atelier, so daß ich gar nicht wußte, ob sie heraufkam in ihr Zimmer oder gleich in dem kleinen Kabinett schlief, das sie sich unten eingerichtet hatte.
Gewohnheit ist tödlich. Nach einiger Zeit schien es mir, als sei dies so, wie es immer gewesen war und immer sein würde. Wie gar nichts.
Was ich nicht wußte, war, daß sich Nora in ihrer eigenen, sonderbaren, traumerfüllten Welt vor mir fast ebenso sehr fürchtete wie ich mich vor ihr.
Sie erinnerte sich der Schmerzen. Der schrecklichen, reißenden Schmerzen in ihrem Leib, als das Baby auf die Welt kam. Der Schmerzen und der grellweißen Lampen an der grünen Decke des Entbindungszimmers. Jede Farbe war klar und deutlich. Das rote Blut auf den weißen Gummihandschuhen des Arztes. Der schwarze Knopf auf dem silbergrauen Metallbehälter neben der Schwester. Immer waren diese Dinge in ihren Träumen. Sogar darin war sie nicht wie andere Menschen. Sie träumte in Farben. Der Arzt flüsterte ihr ins Ohr: »Beruhigen Sie sich, Mrs. Carey, unterdrük-ken Sie die Schmerzen. In ein paar Minuten ist es vorbei.«
»Ich kann nicht!« versuchte sie zu schreien, aber es kam kein Ton über ihre Lippen. »Ich kann nicht, es tut zu weh.« Sie spürte, wie ihr die Tränen aus den Augenwinkeln rannen. Sie wußte, wie die Tränen aussehen mußten, wenn sie ihr über die Wangen rannen. Wie kleine funkelnde Diamanten.
»Sie müssen, Mrs. Carey«, flüsterte der Arzt wieder. Sie sah die blauroten Äderchen an seinen Nasenflügeln, als er sich über sie beugte.
»Ich kann nicht!« schrie sie wieder. »Ich kann die Schmerzen nicht aushalten! Um Gottes willen, tun Sie etwas, sonst werde ich wahnsinnig. Zerschneiden Sie das Kind und holen Sie es in Stücken heraus! Es soll mir nicht mehr weh tun!«
Sie spürte den Stich einer Nadel in ihrem Arm. In jäher Angst sah sie auf zu dem Arzt. Ihr fiel ein, daß er katholisch war und nach katholischer Lehre das Kind retten müsse und die Mutter notfalls sterben lassen. »Was tun Sie?« schrie sie auf. »Bringen Sie mich nicht um! Bringen Sie das Kind um! Ich will nicht sterben!«
»Keine Angst«, sagte der Arzt ruhig. »Keiner stirbt.«
»Das glaube ich Ihnen nicht!« Sie versuchte sich aufzurichten, aber es preßten sich Hände auf ihre Schultern und drückten sie herunter.
»Ich muß sterben. Ich weiß es. Ich muß sterben!«
»Zählen Sie von zehn rückwärts, Mrs. Carey«, sagte der Arzt gelassen. »Zehn. neun.«
»Acht, sieben, sechs.« Sie blickte in sein Gesicht. Es sah auf einmal aus wie ausgefranst. Wie im Film, wenn ein Bild aus dem Brennpunkt rutscht. »Acht, sieben, sechs, vier, sieben, drei, vier.«
Dann kam das Dunkel. Das sanfte, rollende Dunkel.
Ein Geräusch aus dem Atelier neben dem kleinen Kabinett, in dem sie schlief, weckte Nora. Sie richtete sich schnell auf. »Sind Sie es, Charles?«
Schritte näherten sich der Tür. Sie ging auf, und Sam Corwin trat ein. Es war fast zehn Uhr. Erst kurz vor fünf war sie auf das Bett gefallen, zu müde, um auch nur ihren Overall auszuziehen. »Was tust du hier - schon so früh?« fragte sie.
Sam steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe eine große Neuigkeit für dich.«
Sie stand verdrossen auf und fuhr sich mit den Fingern durch ihr Haar.
Es fühlte sich fettig und schmutzig an. »Was denn?«
»Deine Skizze für die United Nations hat Beifall gefunden. Es wird die einzige Statue auf dem Platz der United Nations in New York sein, die von einer Frau ist.«
Dire Müdigkeit war wie weggeblasen, sie war mit einemmal in bester Stimmung. »Wann hast du es erfahren?«
»Vor einer Stunde. Scaasi hat mich von New York angerufen. Ich bin sofort hergekommen.«
Eine Welle von Triumph durchflutete sie. Sie hatte recht gehabt. Sogar Luke mußte das jetzt zugeben. Sie schaute Sam an. »Hast du es schon jemandem erzählt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es wird noch am Vormittag offiziell bekanntgegeben.«
Sie ging ins Atelier. »Ich will es Luke erzählen, ehe er es auf anderm Weg erfährt.«
»Nun«, sagte Sam, »nachmittags kommt es bestimmt schon über die New Yorker Sender.«
»Dann wollen wir es ihm
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