Wohin du auch fliehst - Thriller
einen Schlüssel. Ich wusste gar nicht, dass das Gästezimmer ein Schloss hatte. Ich hatte es nie zuvor gebraucht. Nur ein Schlüssel also.
Ich spürte, wie er mich von hinten an den Haaren hochzog, es tat weh. Er lockerte den Knebel. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich geknebelt war, doch das war ich – mit einer Art Lappen. Darunter waren meine Mundwinkel wund und blutverkrustet. Als er den Lappen wegnahm, spürte ich, wie neues Blut hervorsickerte. Ich versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch nur ein Stöhnen zustande. Ich hielt die Augen geschlossen. Ich wollte ihn nicht ansehen. Ich wollte sein Gesicht nie wieder sehen.
»Wenn ich dir die Handschellen abnehme, wirst du dich dann benehmen?«, fragte er. Seine Stimme war ruhig, kontrolliert. Er war also nicht betrunken, immerhin etwas.
Ich nickte. Meine Wange scheuerte über den Teppich. Er roch immer noch neu. Ich spürte, wie Lee ein Handgelenk packte, die Handschellen aufschloss und sie laut klickend aufsprangen. Instinktiv streckte ich die Arme, und die plötzliche Bewegung ließ mich vor Schmerz aufschreien.
»Halt’s Maul!«, sagte er nach wie vor ruhig. »Oder ich schlag dich noch einmal bewusstlos.«
Ich biss mir auf die Lippe, Tränen flossen. Jetzt wo er mir die Handschellen abgenommen hatte, konnte ich die Beine ausstrecken, obwohl das unglaublich wehtat. So viel zum Thema Gegenwehr, dachte ich. Ich konnte mich kaum bewegen.
Nach einer Weile drehte ich mich auf die Seite, glaubte, mich aufsetzen zu können. Ich versuchte, mich auf den Ellbogen zu stützen, und öffnete die Augen. Das Zimmer verschwamm. Ich sah meinen Arm und meine Handgelenke. Sie waren geschwollen und von den Handschellen aufgeschürft.
Er wartete geduldig und sah zu, wie ich versuchte, mich aufzusetzen. Als es mir schließlich gelungen war und ich ihn ansah, saß er mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden und lehnte sich an die Tür. Er wirkte hochzufrieden. Ich fuhr mit dem Handrücken über meinen Mund. Blut blieb daran kleben, aber es war nicht viel. Mein Kopf pochte immer noch, er musste mich bewusstlos geschlagen haben.
Ich trug immer noch mein blaues Kostüm, das ich für die Reise nach New York ausgewählt hatte, weil es nicht knitterte. Nun, jetzt war es verknittert. Die Jacke war an einer Schulter zerrissen, ich spürte, wie sie nachgab, als ich mich bewegte. Der Rock war hinten offen. Hatte er versucht mich auszuziehen?
Um meine Knöchel war ein Strick gewickelt, ein blauer, nicht sehr dicker Nylonstrick, der an einem Ende lose herunterhing. Er musste irgendwo durch die Handschellen gezogen worden sein. Ich wollte hinfassen und ihn lösen, aber dazu fehlte mir die Kraft.
Wie hast du mich gefunden?, hätte ich ihn am liebsten gefragt. Woher wusstest du Bescheid? Wie bist du so schnell nach Heathrow gekommen? Aber zuallererst wollte ich wissen, warum. Warum hatte mein Plan nicht funktioniert? Warum saß ich nicht im Flieger irgendwo über dem Atlantik? Warum war ich nicht schon in New York?
»Man wird mich vermissen«, sagte ich. »Wenn ich nicht in New York erscheine, wird man mich vermisst melden. Man wird mich suchen.«
»Wer denn?«
»Mein Freund. Er hat mir in New York einen Job gegeben.«
»Dein Freund? Du meinst wohl Jonathan Baldwin?«
Das Blut gefror mir in den Adern, als der Name über Lees Lippen kam
»Was? Was hast du gesagt?«
Er griff hinter sich, zog etwas aus der Gesäßtasche seiner Jeans und warf es mir zu. Es war eine Visitenkarte. Mit tauben Fingern hob ich sie auf. Auf der einen Seite stand in sauberen schwarzen Buchstaben auf dem Firmenlogo in Grün und Gold:
Jonathan Baldwin (MA), Betriebswirt
CHRP, CHSC
Senior Unternehmensberater
Ich drehte die Karte um. Auf der Rückseite stand in meiner Handschrift:
Konferenz über das Management von Veränderungsprozessen,
Manchester, 5.–16. Juni 2000
»Die lag in deinem Kalender«, sagte er. »Und du bist verdammt noch mal darauf reingefallen, auf jedes beschissene Wort. Ich habe immer gewusst, dass du naiv bist, Catherine, aber dass du so dumm bist, hätte ich nie gedacht.«
Es gab also keinen Job in New York. Es wartete keine Wohnung auf mich. Es gab keinen Ausweg. Und niemand würde meine Abwesenheit bemerken, weder in New York noch hier. Es konnten Wochen, ja sogar Monate vergehen, bis irgendjemandem auffiel, dass ich verschwunden war. Und bis dahin würde ich tot sein. Eine Welle der Verzweiflung erfasste mich, die es mir unmöglich machte, mich neben dem Schmerz noch auf etwas
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