Wohin du auch fliehst - Thriller
etwas dafür tun müssen. Es ist wie bei fast allem im Leben: Je mehr Energie Sie investieren, desto mehr kommt dabei heraus.«
Als ich endlich wieder hinaus auf die Straße trat, war es bereits dunkel. Wenigstens regnete es nicht mehr. Der Verkehr stockte, vermutlich war ein Unfall am North Circular für den Stau verantwortlich. Die Busse waren einigermaßen leer, kamen aber nicht schnell voran.
Ich hatte das Gefühl, eine wichtige Hürde genommen zu haben. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Dabei hatte ich nach dem Krankenhausaufenthalt genau davor am meisten Angst gehabt, nämlich mir nach dem absoluten Kontrollverlust – dem Ausgeliefertsein an Fremde, die ich nicht mochte und denen ich nicht vertraute – vorschreiben zu lassen, wann ich zu essen, wann ich zu schlafen und wann ich auf die Toilette zu gehen hatte.
Als ich das zweite Mal aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wusste ich, dass ich lieber sterben würde, als noch mal dorthin zurückzukehren. Ich war mit einem leeren Lächeln und dem leeren Versprechen, mich so bald wie möglich an die örtliche Nervenheilanstalt zu wenden, weggezogen. Ich entfern te mich von den Ärzten, den Krankenschwestern, den Sozialdiensten und dem ganzen schrecklichen System, das mir auch nicht weiterhelfen konnte. All das hatte seinen Zweck erfüllt. Es hatte mich wieder auf die Beine gebracht und mich ziemlich grob darauf hingewiesen, dass ich keineswegs tot war, sondern noch ziemlich präsent und mich nun einfach zusammenreißen musste. Oft wünschte ich mir, lieber gestorben zu sein, als diesen Genesungsprozess zu durchlaufen. Doch der Umzug hatte mir klargemacht, dass nur ich mein Leben kontrollieren konnte. Dazu gab es keine Alternative. Ich übernahm die Kontrolle, kontrollierte jeden Augenblick des Tages, plante alles auf die Sekunde genau, zählte meine Schritte, plante meine Teepausen. All das gab mir ein Ziel, einen Grund, jeden Tag aufs Neue einen Fuß vor den anderen zu setzen, und zwar ganz unabhängig davon, wie beschissen, trostlos und allein ich mich fühlte.
Ich möchte das nicht aufgeben. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, wenn auch nur vorübergehend.
Dienstag, 16. März 2004
Als mein Handy klingelte, zuckte ich zusammen. Ich saß da und wartete, dass etwas geschah. Ich wartete darauf, dass er zurückkam, dass er mich anrief, hoffte und fürchtete es zugleich. Doch auf dem Display stand nicht Lee; sondern Sylv mobil.
»Sylvia?«, sagte ich und versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen. »Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut, Süße, und dir?«
»So weit alles in Ordnung. Wie ist es in London?«
»Wie geht es dir wirklich?«
Für einen Augenblick konnte ich nicht antworten, hielt das Telefon umklammert, starrte auf einen Fleck an der Wand und versuchte mich zu beherrschen. »Es geht mir ganz gut«, sagte ich erneut.
»Louise meint, du seist so komisch geworden. Sie macht sich Sorgen um dich.«
»Komisch? Ich bin überhaupt nicht komisch geworden. Was soll denn das heißen?«
Ihre Stimme klang ungewöhnlich und tröstend. »Nichts, sie macht sich einfach nur Sorgen. Sie hat erzählt, dass du Narben an den Armen hattest. Dass du neulich mit ihnen aus warst und nach einer halben Stunde wieder nach Hause gegangen bist. Und Claire hat erzählt, dass Lee sich neulich bei ihr ausgeheult hat – dass ihr euch gestritten habt oder so.«
Als ich nicht darauf antwortete, sagte sie: »Hallo, Catherine?«
»Ich bin noch da.«
»Soll ich nach Hause kommen, Süße? Am Wochenende könnte ich vielleicht für einen Tag kommen …«
»Nein, nein. Ehrlich, es geht mir gut. Es ist nur so, dass – na ja, mit Lee läuft es nicht so gut.«
»Was ist denn passiert?«
»Er – er … Manchmal macht er mir einfach Angst. Er schubst mich herum, und das mag ich nicht.«
Eine sehr lange Pause entstand. Ich hatte es getan. Ich hatte zugegeben, dass meine perfekte Beziehung mit meinem perfekten Mann nicht so perfekt war, wie alle dachten. Jetzt würde alles wieder gut, denn Sylvia wusste Bescheid. Sylvia würde genau die richtigen Worte finden, damit alles besser wurde, Sylvia war einfach die beste Freundin, die man sich nur vorstellen kann. Ich wartete darauf, dass sie etwas Verständnisvolles sagte, dass sie mir riet, ihn zu verlassen, die Beziehung zu beenden und ihn zu vergessen.
Doch als sie wieder anfing zu reden, war ich so geschockt, dass mir die Luft wegblieb.
»Catherine, ich glaube, du solltest dir Hilfe holen.«
»Wie bitte …?«
»Du hast
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