Wohin mit mir
Malers.
Am Nachmittag über die Spanische Treppe wieder wie gestern zur Kirche Santissima Trinità al Monte Pincio. Das Gittertor steht offen. In der Pförtnerloge sitzt ein junger Schwarzhäutiger. Er steckt seinen Kopf heraus, fragt freundlich auf englisch, ob er mir helfen könne. Ob es hier noch ein Nonnenkloster gebe, möchte ich wissen. Er erhebt sich, kommt aus seinem Verschlag.
Macht eine Bewegung, ihm zu folgen. Dann stehen wir im Kreuzgang eines überwältigend schönen Klosterhofes. Seine Eltern lebten in Mombasa, erzählt er, er sei Kongolese, sei fünfunddreißig. Er habe Ökonomie studiert, sei verheiratet, habe zwei Kinder. Er gibt mir die Hand, stellt sich vor. Baschal, sagt er. Er ist ungemein gesprächig. Und die Nonnen, frage ich. Er geht mit mir vom Kreuzgang in die Mitte des Innenhofes, weist rechts auf die obere Fensterreihe über den Arkadenbögen. Dort lebten sie. Es seien nicht einmal mehr zwanzig Nonnen, zumeist alte. Eine sei über hundert Jahre alt, sie könne nicht mehr aufstehen. Eine andere flehe jeden Tag zu Gott, daß sie das neue Jahrtausend erlebe, und wenn es nur ein einziger Tag sei. Und singen sie auch? Ja, bei ihren sonntäglichen Andachten.
Wir gehen zur Pförtnerloge zurück. Heute sei ein besonderes Ereignis, sagt er, am Abend werde unter freiem Himmel im Klosterinnenhof Verdis »La Traviata« gegeben. Seit Wochen sei die Vorstellung ausverkauft. Aber er lade mich ein.
Ich weiß nicht, wie mir geschieht, bin freudig überrascht und nehme seine Einladung an.
Am Abend steht die Treppe voller Menschen, die auf den Einlaß warten. Mit einem unaufhörlichen Scusi , Verzeihung, arbeite ich mich nach oben. Der junge Kongolese sieht mich, kommt aus seiner Pförtnerloge, führt mich an den Kartenabreißern vorbei, durch eine Seitentür gelange ich in den Klosterhof.
Langsam füllt er sich. Mein Platz in der ersten Reihe.
Das Orchester. Ausnahmslos junge Musiker. Unmittelbar vor mir ein Geiger mit kahl rasiertem Schädel. Seine Kiefer mahlen, er hat einen Kaugummi im Mund. Spricht zugleich in sein Handy, laut, wie alle Italiener. Auch andere Musiker telefonieren.
Dann das Stimmen der Instrumente. Stille. Das erwartungsvolle Publikum. Beifall für den Dirigenten. Die Musik setzt ein, die Bühne belebt sich. Auch Chor und Solisten sind sehr jung; eine grazile Violetta mit einem reinen Sopran, Tenor und Bariton von Vater und Sohn Germont von großer Kraft. Das Publikum ist begeistert. Mehrfach Szenenapplaus. Auch beim Trinklied.
Zwischen den Akten gibt es keine Pause. Das Orchester bleibt sitzen, mehrere Musiker greifen wieder zu ihren Handys. Auch die Zuschauer verharren auf ihren Plätzen, nur die ganz außen Sitzenden vertreten sich die Füße im Kreuzgang. Im zweiten Akt, als der alte Germont seinen Sohn an sein heimatliches Land, an Herkunft und Familie erinnert und zur Umkehr bewegen will, wieder Applaus auf offener Szene. Ich beobachte, die Kiefer an dem rasierten Schädel mahlen, sobald er seine Geige sinken läßt. Es stört mich nicht.
Alles ist mir wie ein Traum. Eine laue Sommernacht; der Himmel über dem Innenhof wird langsam dunkel, Schwalben zischen über ihn hin, Flugzeuge dröhnen, von der Straße ist der Lärm der Fahrzeuge zu hören. Ich sehe zu den Fenstern hoch: die Klosterzellen der Nonnen. Alle Fenster stehen offen, ab und an bewegt ein Luftzug die Gardinen. Liegt die über Hundertjährige in ihrem Bett und lauscht? Verfolgen auch die ande
ren Nonnen die Geschichte des gefallenen Mädchens, ihrer großen Liebe und ihres Verzichtes, lauschen dem betörend schönen Gesang?
Der dritte Akt. Die todkranke Violetta. Als Alfred Germont und sein Vater in ihrer großen Arie Violetta um Verzeihung bitten, kommen mir die Tränen. Ich kann mich nicht entsinnen, wann mir das jemals in einer Oper passiert wäre. Sie fließen auch in der Sterbeszene; das letzte Duett der Liebenden, Violettas Addio del passato … , Alfredos Mia Violetta! Colpevol sono – so tutto – o cara …
Heimweg im Strom der Menschen, die Spanische Treppe hinab, die Via del Babuino entlang und dann links durch die kleine Gasse, die Via Laurina, es ist bereits nach 23 Uhr, aber in dem kleinen Piercing-Laden ist noch reger Betrieb.
21. Juli
Ich werde ins Sekretariat gerufen. Günter Berg vom Verlag ist am Apparat. 100 Jahre Insel, eine Messeveranstaltung, ich müsse dabeisein. Schon Unseld zuliebe. Man könnte noch einige wenige Lesungen anhängen. Ich stelle mich taub. Also will
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