Wohin mit mir
Rundbogenarkaden mit ihren dorischen, ionischen und korinthischen Kapitellen; meine Kunsterziehungslehrerin taucht vor mir auf, sie wirft mir ein Stück Kreide zu, ruft mich an die Tafel.
Durch die offenen Bögen des alten Gemäuers blicke ich auf Pinien, dahinter sanft ansteigende Hügel. Die aufgehäuften Steinmassen des gewaltigen Kolosseums. Totes Gestein, das nicht zu mir spricht. Warum sagt mir eine Landschaft mehr über die Menschen und ihre Geschichte als diese Steine?
Die Sonne wandert, bald wird sie mich erreichen. Eine Gruppe graugekleideter Nonnen nähert sich, schöne offene Gesichter, ich lächele, einige lächeln zurück. Mehrere sind wohlbeleibt, haben starke Brüste, ganz umsonst im Leben, denke ich, kein Kind wird daran gesäugt. Eine Trillerpfeife schrillt, ein Aufseher ruft die Leute zur Ordnung. Ich kann nicht sehen, welche Sünden sie begangen haben. Eine Schulklasse wandert vorbei, sehr diszipliniert zwei und zwei, ihre Aussprache; unverkennbar, es sind Schwaben. Ein rothaariger Junge fällt mir auf, wache Augen; es könnte der Zögling Friedrich Schiller sein. Die Nonnen kommen zurück. Wieder das Lächeln, wir grüßen uns. Eine ganz junge mit einem modernen Rucksack sagt an mich gewandt: Wird es heute noch heißer werden? Ich nicke, mein Schattenplatz liegt jetzt in der Sonne. Sie brennt unbarmherzig. Ich nehme mir vor, noch heute im Hutgeschäft in der Via del Babuino einen Sonnenhut zu kaufen.
Die riesigen Ausmaße des Kolosseums, über mir der vierte Rang, dort war das gemeine Volk. Von innen und außen soll der Bau ursprünglich mit Marmor verkleidet gewesen sein. 70 000 Menschen fanden Platz, alle Stockwerke oder Ränge konnten von den Zuschauern in kürzester Zeit erreicht werden, achtzig Eingänge gab es; von oben konnte – gegen die Sonne – ein riesiges Segel über das gesamte Rund des ovalen Areals gespannt werden. Die Politik von Brot und Spielen. Bei der Einweihung 80 nach Christus unter Kaiser Titus soll es Festspiele gegeben haben, die hundert Tage dauerten. Gladiatorenkämpfe, Seeschlachten, Tierhatzen. Bei letzteren sollen allein 5000 Tiere getötet worden sein. Hundert Löwen konnten gleichzeitig in die Arena gebracht werden. Ob das alles stimmt? Woher nimmt man diese Zahlen? Ich stehe auf, gehe langsam nach unten, nehme das Schild wahr, das zu den Tierkäfigen führt, ich muß sie nicht besichtigen.
Draußen der Blick auf das weiße Tor. Das Gewimmel der Besucher, die Fremdenführer mit ihren hochgehaltenen Schildern oder Schirmen, das Hupen der zur Abfahrt bereitstehenden Busse. Schwerleibige alte, aber auch schlanke junge Italiener in historischer römischer Tracht, mit Federbüschen an den goldfarbenen Plastehelmen, sie locken gegen Bezahlung zum Gruppen- oder Einzelfoto. Heiko, du Dämel, paß doch auf, ruft eine dicke Frau in breitem Sächsisch.
Weiter laufen, über den Palatin in Richtung Tiberfluß. Die Basilica di Santa Maria in Cosmedin. In die Vorhalle strömen Besucher. Ich beobachte, wie die Ankommenden sich vor einer Skulptur fotografieren las
sen, alle die Hand in eine mundähnliche Öffnung gelegt. Gewiß steht es in den Reiseführern.
Ich verlasse die Touristengegend, gelange über die Tiberinsel in den Stadtteil Trastevere. Eine Gaststätte, ein Brünnlein rauscht. Als ich Platz genommen habe, Klopfen und Sägen, der Fußboden wird erneuert. Aber ich bleibe. Ein freundlicher Kellner, schlank, schwarzhaarig, elegante Bewegungen. Ich bestelle, was am schönsten klingt: Carrello al Tavolo con Vasto Assortimento und Bucatini all'amatriciana. Seine Frage un quarto di vino bianco beantworte ich mit Si, prego . Soviel Wein am Mittag und bei dieser Hitze, wie soll das gehen. Nur vier Tische sind besetzt. In meiner Nähe zwei junge Männer mit einer älteren Frau in lebhaftem Gespräch. Sie bestimmt es, wie ich sehen kann. Die jungen Männer hören ihr gespannt zu, stellen ab und an Fragen. Als die Frau, sie hat ein eigenartig schönes Gesicht, aufsteht, um zur Toilette zu gehen, stützt sie einer der jungen Männer. Da bemerke ich, wie hinfällig sie ist. Das treibt mir – unerklärbar – die Tränen in die Augen. Sehe ich mich in ihr, wie ich in einigen Jahren sein werde? Das Gespenst des Alterns, Altwerdens, das mich seit einiger Zeit heimsucht und nun auch in Rom auftaucht.
Das Essen ist vorzüglich. Der Ober fragt mehrfach, ob ich zufrieden sei. Er bleibt am Tisch stehen, die Hände auf dem Rücken. Woher ich komme, fragt er. Erzählt dann, als
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