Wohin mit mir
Ballante aufgetaucht. Von der Verwaltung der Altertümer in Rom habe er die Erlaubnis zu Versuchsgrabungen bekommen. Ein Straßenbaumeister, einfach so, frage ich. Ja, dieser Enrico Ballante sei
zwar ein archäologischer Autodidakt gewesen, aber eine Vermessungstechnik stand ihm zu Gebote, von der die Archäologen nur träumen konnten. Daher wohl die Genehmigung. Und wußte man um die Schätze hier? Selbstverständlich. Schon als Kind habe er von seinem Großvater von einem halb aus der Verschüttung aufragenden Oberkörper der Skylla gehört; ein Mann namens Pacifico di Tucci habe 1880 davon berichtet, 1898 seien ein Kopf und eine Hand einer großen Figur gefunden worden. Und 1956 habe die Verwaltung der Altertümer in Rom Bauaufnahmen der Tiberius-Villa und der Grotte in Auftrag gegeben.
Dann, so Antonio, kam die Sensation. Innerhalb von vierzehn Tagen, in der Zeit vom 11. bis 25. September 1957, fand dieser Straßenbaumeister mehr Skulpturen als je ein anderer Archäologe im 20. Jahrhundert. Halb Rom sei herbeigeeilt. Aber die größte Überraschung sei gewesen: Auf einem der 2000 Jahre alten Steinfragmente habe man die Signatur der drei aus Rhodos stammenden Meister Hagesandros, Athanadoros und Polydoros gefunden. Und diese Bildhauer seien, nach dem Zeugnis von Plinius, diejenigen, die die Laokoon-Gruppe in Marmor gehauen haben. Die Laokoon-Notiz habe den Namen Sperlonga in die Weltöffentlichkeit getragen.
Dann hätten die mit Marmorteilen beladenen Wagen zur Abfahrt nach Rom bereit gestanden. Antonio lacht, schlägt sich an die Brust. Aber die Fischer aus Sperlonga und die Bauern aus der Umgebung hätten Gräben ausgehoben und Wälle gebaut, um den Abtransport zu verhindern. Auch er habe seinen Teil dazu bei
getragen, als junger Kerl sei er unter denen mit Schaufel und Spaten gewesen. Sie hätten erreicht, daß die antiken Grabungsstücke vor Ort, in Sperlonga, bleiben. 1963 sei dann das Museum eröffnet worden.
19. September
In der Nacht ein heftiges Gewitter. Der Horizont von Blitzen durchzuckt, Himmel und Meer für Sekunden in ein grelles Licht getaucht; ein Dunkelgrün, fast Schwarz, das man von El Grecos Gemälden kennt.
Am Morgen Sonne. Mein letzter Tag. Nochmals die Zeitreise zurück in die hellenistische Welt. Über drei Stunden halte ich mich im Museum auf.
Am Abend steigen Leuchtraketen in die Luft, Böllerschüsse sind zu hören, ein großes Feuerwerk. Es überrascht mich auf dem Rückweg von meinem letzten Gang durch Sperlonga. Als ich am Hotel anlange, finde ich den Strand mit einem Seil abgetrennt. Die Jugoslawin steht mit dem jungen Ehepaar unmittelbar an der Absperrung, ich hätte etwas versäumt, rufen sie mir zu, und der über und über tätowierte junge Mann, sein schlafendes Söhnchen auf dem Arm, weist auf die vielen Eisenstangen, die im Sand stecken, darauf sei ein phantastischer Wasserfall aus Feuer niedergegangen, sagt er.
20. September
Im Zug zurück nach Rom. Gegen 21 Uhr in der Casa di Goethe. Jemand hat in meinem Zimmer ferngesehen. Meine Arbeitsmaterialien und Bücher auf dem Schreibtisch sind verrückt. Ein unangenehmes Gefühl.
Das Kindeskind spricht sein erstes Wort. Du versäumst viel, sagt der Sohn am Telefon.
21. September
Das Programm zu Unselds Geburtstagsfeier in Venedig ist gekommen. Jorge Semprún und Jürgen Becker werden da sein, Amos Oz, Louis Begley, Peter Bichsel, Tankred Dorst, Durs Grünbein, Jürgen Habermas, Adolf Muschg und Cees Nooteboom. Mit Hand hat Siegfried Unseld unter seinen Einladungsbrief geschrieben: Christiane und Goethe bleibt weiterhin auf Platz 1. Ein wirklich schöner Erfolg.
22. September
Innere Unruhe. Kulturstaatsminister Naumann wird für morgen erwartet. Aus meinem Zimmer werden Lautsprecher, Radio, Fernsehapparat geholt, dreimal hintereinander erscheint Domenico. Bei der dritten Störung trage ich ihm die Kabel nach, verschließe dann die Tür von innen.
Michael Naumann wird in der Casa di Goethe eine Ausstellung der Stipendiaten eröffnen. Bisher haben drei hier gearbeitet, Mimmo Catania, Martin Zeller und ich. Meine Bücher sind in einer gläsernen Vitrine. Und angekettet liegt »Christiane und Goethe« auf einem Stuhl. An den Wänden die Arbeiten der beiden anderen Stipendiaten. Der in Berlin lebende Italiener Mimmo Catania, ein bildender Künstler. Sein irritierendes Spiel mit der 1807 entstandenen Lebendmaske Goethes, die man als Totenmaske empfindet. Er holt sie in das gegenwärtige Rom. Oder ist es
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