Wohin mit mir
Linien erzeugt. Die Füße auf dem warmen Sand, die Schuhe baumeln, an den Schnürsenkeln zusammengebunden, über der Schulter. Eine Wanderung Jahrtausende zurück und zudem noch virtuell das Meer überquerend von Italien nach Griechenland.
Der römische Kaiser Tiberius – Regent von 4 bis 37 n. Chr. – ließ sich bei Sperlonga eine kaiserliche Villa und, in einer am Meer gelegenen Grotte, ein Naturtheater errichten. In Griechenland, wo er eine Zeit gelebt hatte, war er mit der hellenistischen Kunst in Berührung gekommen. Er gab Nachbildungen aus Marmor nach Bronzearbeiten aus der Zeit des Pergamonaltars um 160 v. Chr. in Auftrag. Er wählte dafür ein Bildhaueratelier in Rhodos, in dem die Meister Hagesandros, Athanadoros und Polydoros arbeiteten. Es entstand ein grandioses Gesamtkunstwerk, in sechs kolossalen Figurengruppen erzählte es von den Abenteuern des Odysseus vor Troja und seinen Abenteuern auf der Fahrt nach Ithaka.
Kaum fünfhundert Jahre später vernichtete religiöser Fanatismus die Skulpturen. Den christlichen Mönchen, die sich 511 n. Chr. in dem Gebiet ansiedelten, galt die hellenistische Kunst als heidnisch, und in blindem Eifer zerschlugen sie die marmornen Nachbildungen der antiken Figuren in Tausende Stücke.
Der Septembermorgen mit dem gedämpften Licht. Nachdem ich zwei – oder waren es drei – Kilometer gelaufen bin, weist ein Schild mit der Aufschrift Zona Archeologica landeinwärts. Ich schlüpfe in die Schuhe.
Ein weites Areal mit niedrigen Mauern vor mir. Völlig unspektakulär. Die Reste der Kaiservilla. Wo ich eine Eintrittskarte kaufen müßte, kein Mensch, aber die Gittertür ist angelehnt. Ich gehe hinein. Eine Gruppe von vier Leuten, eine alte Frau mit einem blaugepunkteten Kleid und drei Männer, zwei ältere, ein junger. Rucksäcke stehen umher. Eine Art Meßtischblätter liegen auf dem Boden. Offenkundig wird hier gearbeitet.
Ich nähere mich. Die Frau lächelt, ich bin also nicht unwillkommen. Setze mich auf einen Mauervorsprung, höre zu, beobachte, was passiert. Dem Wechsel von Italienisch und amerikanischem Englisch kann ich entnehmen, die Frau ist eine italienische Archäologin, die drei Männer sind Fachleute aus den USA . Es geht um die Frage, wo der Eingang zum Garten gewesen sein könnte und wo Anfang und Ende des Schwimmbeckens lagen. Einer der älteren Männer nimmt mit einer kleinen Schaufel immer wieder Bodenproben, füllt sie in Plastetüten. Der jüngere hat eine Kamera aus seinem Rucksack geholt und scheint jeden Quadratzentimeter zu fotografieren.
Die Italienerin spricht. Wie alt mag sie sein? Ich kann den Blick nicht von ihr wenden. Ihre dünnen Beine, die wie Stöcke wirken. Ihr zerfurchtes Gesicht. Faltige Arme. Altersflecken. Ihr völlig aus der Mode gekommenes gepunktetes Kleid mit den Puffärmeln, das aus ihrer Jungmädchenzeit zu stammen scheint. Zudem viel zu kurz ist. Die drei Männer hängen an ihren Lippen. Ihr konzentriertes Zuhören, nur knappe Fragen. Und wieder setzt sie ein. Die Lebhaftigkeit ihrer Gesten,
ihre Begeisterung, ihre offenkundige fachliche Kompetenz, die Leidenschaftlichkeit, mit der sie spricht. Das alles macht sie schön, läßt sie jung erscheinen.
Von meinem Platz auf der sonnenwarmen Mauer verfolge ich die Szene. Immer faszinieren mich Menschen, die sich ihrer Sache ganz hingeben.
Die Sonne steht schon hoch, als ich endlich zum Museo gehe. Zwei Touristengruppen verlassen gerade das Gebäude; die Führer mahnen zur Eile, die Motoren der Reisebusse laufen, die Fahrer hupen.
Im Inneren nur wenige Besucher. Riesige Figuren. Diese Monumentalität habe ich nicht erwartet. Ich bin verstört. Zunächst auch von der Vollständigkeit. Habe ich Fragmente erwartet? Vollkommenheit – Vollständigkeit. Ich denke an die Frau ohne Kopf im Park der Villa Borghese.
Hier aber, ich weiß es aus dem in Rom gehörten Vortrag, besteht die Leistung in der Vervollkommnung. Jahrzehnte von Forschungsarbeit waren dazu notwendig. Aus Tausenden von Einzelteilen – bei der Polyphen-Gruppe allein sollen es siebentausend Fragmente gewesen sein – wurden von Archäologen, Kunsthandwerkern, Bildhauern und Technikern unter Leitung von Professor Bernard Andreae die Figuren rekonstruiert. Dazu wurden technisch völlig neue Wege beschritten. Die Archäologen arbeiteten mit dem Silikonkautschuk der Firma Wacker Chemie in Bochum. Um fehlende Teile zu ergänzen, wurden sie mit diesem Material vorgeformt, dann aus glasfaserverstärktem
Weitere Kostenlose Bücher