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Wohin mit mir

Wohin mit mir

Titel: Wohin mit mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Damm
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nicht nur humpelnd in Venedig an, sondern verspätet oder gar nicht.
    Am Abend die Auskunft, daß einige von den internationalen Zügen fahren. Also versuchen, heißt es im Sekretariat, und so früh wie möglich am Roma Termini sein. Und die Ellbogen gebrauchen!
     
    27. September
    Chaos am Bahnhof. Aber ich habe es geschafft, in den Zug zu kommen, habe sogar einen Sitzplatz.
    Firenze, Bologna, Ferrara, Rovigo, Padova. Ankunft in Venezia Mestre, dann Venezia Stazione Santa Lucia. Am Bahnhof steige ich in ein Vaporetto um. Es ist hoffnungslos überfüllt, aber ich stehe außen am Gitter.
    Der Blick vom Canale Grande auf die Pracht vergangener Zeiten, die alten Palazzi, eine zerschlissene Theaterkulisse. Ich erinnere mich, wie ich 1987 während der drei Italienwochen von Modena aus für eineinhalb Tage in Venedig war. Meine Verstörung, die Stadt schien mir ein bei lebendigem Leibe verfaulender Leichnam. Das schmutzige Wasser, sein Modergeruch. Ich konnte dem Charme des Verfalls nichts abgewinnen. Hatte ich ein Klischee-Venedig der Gondeln und Gondolieri, der goldglänzenden, marmorverkleideten Fassaden im
Kopf? Oder war es die Verunsicherung damals, das Erlebnis des einzigen Abends, als ich mein abgelegenes Quartier nur mühsam wiederfand? Ich hatte mir an den Auslagen in den Schaufenstern der kleinen Geschäfte und Handwerksbetriebe eingeprägt, wo ich nach links oder rechts gehen mußte. Als ich aber zurückkehrte, war diese Orientierungsmöglichkeit hinfällig; überall waren schwere Metallrollos herabgelassen, starrten mich in ihrer schmutziggrauen Gleichförmigkeit an. Vielleicht aber war es auch die unangenehme Erfahrung, mehrfach von fremden Männern angesprochen, von einem sogar bis zu meiner Absteige verfolgt worden zu sein.
    Die Schiffsglocke ertönt. Die Station San Marco wird ausgerufen. Ich muß mich links halten, über eine kleine Brücke gehen, es sind nur wenige Minuten zum Hotel. Von weitem sehe ich, wie der Portier einem livrierten Hoteldiener winkt, er eilt mir entgegen, nimmt meinen Rucksack ab, trägt ihn mit hoheitsvoller Miene, als sei er ein wertvoller Lederkoffer. Ein anderer Livrierter dann begleitet mich von der Rezeption zum Fahrstuhl, dann über dicke Teppiche zu meinem Zimmer. Er schließt auf, geht voraus, öffnet die Vorhänge vor dem Fenster, geht zurück zur Tür, verbeugt sich filmreif und läßt mich allein.
    Der Raum ist riesig, fast ein Tanzsaal. Ich öffne einen der hohen Fensterflügel – mir stockt der Atem –, der Canale Grande liegt vor mir. Ich denke an das zwielichtige Hotel 1987 in einer der engen Gassen, mein winziges Zimmer, der Blick in einen dunklen Schacht, der darin aufsteigende Küchendunst.
    Direkt mir gegenüber die Kirche Santa Maria della Salute mit ihrer mächtigen barocken Kuppel. Ihr Weiß ist von einem herbstkräftigen Septemberlicht in das Lila der Malvenfarbe getaucht. Etwas weiter links die Türme von San Giorgio Maggiore. Auch sie in diesem malvenfarbenen Licht.
    Ich öffne den zweiten Fensterflügel. Ein Balkönchen lädt zum Sitzen ein. Vor mir die in der Sonne glitzernde Wasserfläche, belebt mit Booten voller Touristen; Lachen, Geschrei. Tuckernde Dieselmotoren, kleine und große Kähne, beladen mit Hölzern, Steinen, manche hochaufgetürmt mit Kisten, ein Kreuz und Quer, geschäftiges Hin und Her. Dazwischen die schwarzen Gondeln mit den traditionell am Bug hochgereckten Schnäbeln, hinten die auf einer rutschfesten Plattform, meist einem fußgroßen Teppich stehenden Gondolieri, die mit der in einer Halterung befindlichen langen Stange ihre Gondeln fortbewegen.
    Die gelben Strohhüte der Gondolieri, die daran flatternden roten Bänder. Mit einemmal ist auch das heitere Venedig von 1987 wieder vor mir. Die Füße erinnern sich an den von den vielen Überschwemmungen gewellten Boden in der gewaltigen Kathedrale San Marco, die Augen an den Blick von einem Campanile – welcher war es? – auf den langgestreckten Lido, auf dem Goethe den Schafsschädel fand. Die Erinnerung bringt die Fahrten zu den Glasbläsern der Insel Murano und den Weißnäherinnen auf der Insel Burano zurück; vor allen Häusern auf Burano flatterten auf Wäscheleinen verführerisch Tischdecken, Servietten, Strandanzüge aus feinem oder grobem weißem Leinen, alle handge
arbeitet, zum Teil mit weißen Stickereien. (Mein ganzes Geld gab ich damals dafür aus.)
    Die vorübergleitenden Gondeln. In den meisten, sehe ich, sitzen Paare; die Männer haben ihren Arm um die Schultern

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