Wohin mit mir
Zusammen mit Peter Bichsel bewundere ich die Mosaiken an Stirnseite und Wänden von Santa Maria Assunata,
wir stehen vor dem »Jüngsten Gericht«. Als wir die Kathedrale verlassen, sind wir vom Sie zum Du übergegangen. Die Teufelsbrücke Ponte del Diavolo, eine der letzten brüstungslosen Brücken der Lagune.
Die Gruppe der Geburtstagsgäste schlendert – dirigiert von Burgel Zeeh – in Richtung Locanda Cipriani. Giuseppe Cipriani, der venezianische Gastronomiekönig; auf ihn geht die Cipriani-Küche zurück, die in Italien eine ähnliche Bedeutung wie die Nouvelle Cuisine in Frankreich hat. Inzwischen muß es der Enkel Ciprianis sein, der das Restaurant auf Torcello führt.
Es ist ein warmer Septembertag, die Sonne scheint, üppiges Grün, ein blühender Garten. Wir nehmen an runden Tischen Platz. Eine schöne Frau eilt mit lebhaften temperamentvollen Gesten auf Siegfried Unseld zu, umarmt ihn, gratuliert. Es ist Inge Feltrinelli, die italienische Verlegerin.
Als ich den Namen höre, lasse ich keinen Blick mehr von ihr. Ihre aufregende Biographie. Als junge Fotoreporterin hat sie 1953 ein Foto von Hemingway auf Kuba gemacht und ist damit berühmt geworden. Mit ihrer Rolleiflex fotografiert die Zweiundzwanzigjährige mit Selbstauslöser sich zwischen Ernest Hemingway und dem Fischer Gregorio Fuentes stehend, mit einem riesigen Fisch, einem Marlin. Da heißt sie noch Inge Schönthal. 1958 lernt sie Giangiacomo Feltrinelli kennen. In Hamburg auf einem Fest, das Heinrich Maria Ledig-Rowohlt zu Ehren des jungen italienischen Verlegers gibt, der gerade großes Aufsehen mit der Publikation von Pasternaks »Doktor Schiwago« erlangt hat. Das erste Gespräch der beiden, er sei auf dem Weg
nach Schweden, erzählt er der Fotografin, um in Stockholm den schwedischen Verleger von Boris Pasternak zu treffen. Danach wolle er mit dem Zelt allein zum Nordkap. Er habe sich gerade von seiner zweiten Frau getrennt, sei in einer Krise. Der Beginn ihrer Liebe. Inge Schönthal wird Inge Feltrinelli. 1962 wird ihr Sohn Carlo geboren. 1964 reisen die beiden nach Kuba, sie wollen Fidel Castros Autobiographie veröffentlichen.
Plötzlich sehe ich mich als junge Frau in Kuba. Dezember 1964. Meine Hochzeitsreise. Ich bin im vierten Monat schwanger. Erstmals im Leben westwärts, immer westwärts, mit dem FDGB -Urlauberschiff »Völkerfreundschaft« über den Atlantischen Ozean. Und alles umher war Meer / Und das Meer war ohne Gestade. Elf Tage. Dann Vögel, die Land verkünden, Inseln, die Bahamas. Und das weiße Schiff läuft in die Straße von Florida ein. Die Küste der USA , die Silhouette von Miami Beach. Flugzeuge erscheinen, es sind amerikanische Militärjets. Im Tiefflug überfliegen sie die »Völkerfreundschaft«. Über eine Stunde dauert das makabre Schauspiel. Alle Passagiere sind an Deck. Wir seien das erste größere Urlauberschiff, das Kuba nach der Blockade wieder anlaufe, wird uns gesagt. (Die Kuba-Krise, ausgelöst durch die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf der kleinen Insel, liegt zwei Jahre zurück. Als Frachtgut getarnt, waren am 15. September 1962 die ersten Raketenteile eingetroffen. Am 22. Oktober, nachdem amerikanische Spionageflugzeuge die Raketenbasen entdeckt hatten, verhängte Kennedy die vollständige Blockade. Der Abgrund eines Atom
krieges. Verhandlungen – unter Ausschluß Kubas – zwischen den Großmächten USA und UdSSR , am 28. Oktober 1962 ordnet Chruschtschow den Abzug der atomaren Raketen an.)
Im Morgengrauen dann, entsinne ich mich, warteten wir vor Havanna auf Reede. In der Ferne war in Richtung Hafeneinfahrt eine sich in Umrissen aus dem morgendlichen Nebel abhebende riesige Christusstatue zu erkennen. Der Hafen dann. Die überaus strengen Kontrollen der kubanischen Behörden. Wer nicht geimpft ist, darf nicht vom Schiff. Zwei ältere Männer trifft es. Herzklopfen. Ich bin nicht geimpft, weil ich schwanger bin. Aber ich habe in der Jenaer Universitätsklinik einen internationalen Impfausweis erhalten, in dem die Nichtimpfung mit Begründung und Stempel eingetragen ist. Gegenüber den kleinen, im Paß liegenden Blättchen der anderen macht mein Ausweis offenbar Eindruck. Ein Blick hinein, ich werde durchgewinkt. Erleichterung.
Das südliche Land, noch nie gesehene, riesige Palmen, Straßenbäume übervoll mit gelben und roten Blüten, kurze Regengüsse und nach zehn Minuten wieder postkartenblauer Himmel. Das Land der Revolution. Vollbusige Frauen, die mit Maschinenpistolen die
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