Wohin mit mir
ihrer Liebsten gelegt. Und immer in der gleichen Höhe setzt schmetternd das O sole mio … der Gondolieri ein. Zu Goethes Zeiten sangen sie noch Verse von Tasso und Ariost auf ihre eigene Melodie. Goethe notiert: Auf heute Abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer bestellt und erinnert sich in Venedig an seinen vor vier Jahren verstorbenen guten Vater, der nichts besseres wußte, als von diesen Dingen zu erzählen . Bis zum Dunkelwerden könnte ich reglos hier sitzen, dem Treiben zusehen, die Veränderung von Lauten, Formen und Farben wahrnehmen.
Ich blicke auf die Uhr. Ich muß mich beeilen. Mein Kleid liegt schon, vom Zimmermädchen frisch gebügelt, auf dem Bett. Ich dusche, ziehe mich um. Prüfe mein Laufen vor dem großen Spiegel. Es geht, trotz Schmerzen, ganz gut. Dann aber sehe ich in mein Gesicht, es ist verkrampft, verbissen, fast häßlich. Ich muß lachen. Ich übe das Entspannen der Gesichtszüge; lieber etwas mehr humpeln, denke ich.
Der Treffpunkt ist in der Calle Vallaresso bei San Marco in »Harrys Bar«. Im Hotelfoyer Günter Berg. Einst habe Ernest Hemingway dort verkehrt, erzählt er mir auf dem Weg. Siegfried Unseld strahlend, im weißen Hemd, Schweißperlen auf der Stirn. Er macht mich mit Amos Oz und dessen Frau Nili bekannt. Die natürliche Art der beiden, sofort Sympathie, wir spre
chen über die Reise, über Alltagsdinge. Dann Louis Begley und seine Frau Anka Muhlstein, Jürgen Becker und Rango Bohne. Ich nehme wahr, alle Schriftsteller sind mit ihren Frauen gekommen. Nur Peter Bichsel und ich sind ohne Partner da.
Später warten wir am Steg. Ein Boot legt an und bringt uns zum Ort der Feier. Louis Begley erzählt mir, die Lagunenstadt sei nach New York seine zweite Heimat, immer wieder lebe er für Monate hier, er deutet auf die zu beiden Seiten des Canale Grande vorbeiziehenden Paläste, spricht von deren Geschichte.
Am linken Ufer, unweit der Rialto-Brücke, legt unser Boot an: der Palazzo Pisani. Eine breite würdevolle Treppe, die man nicht gehen, sondern hinaufschreiten muß. Schwierig für mich! Oben ein prunkvoller barocker Saal, alte Wandgemälde, Kronleuchter, die tausend flackernden Kerzen gleichen. In der Mitte eine festlich geschmückte Tafel. Ein Lautenspieler. In kleinen Gruppen stehen wir in Gesprächen.
Dann bittet der Verleger zu Tisch. Ich werde bis an die Haarwurzel rot, ich sitze Siegfried Unseld zur Linken. Uns gegenüber Unselds Frau Ulla Berkéwicz zwischen Jürgen Habermas und Amos Oz. Die befrackten, lautlos agierenden Kellner. Leises Klirren von Gläsern. Gemurmel von Stimmen. Siegfried Unselds feste Gewohnheit, sich um Mitternacht zurückzuziehen (ich habe es mehrfach in seinem Haus in der Klettenbergstraße in Frankfurt am Main und auch bei offiziellen Empfängen erlebt), ist für diese Nacht außer Kraft gesetzt. Das Erheben der Gläser auf sein Wohl um Mitternacht. Amos Oz, auf seiner Serviette hat er sich No
tizen gemacht, hält die Rede. Burgel Zeeh überreicht ihm ein druckfrisches Buch: Grußworte befreundeter Verleger aus vielen europäischen Ländern. Weitere Ansprachen. Unselds Freude über alles, sein Dank.
Dann wieder das Lautenspiel. Und ein alter Schauspieler aus Hamburg deklamiert im Kostüm der Pulcinella aus der Commedia dell'Arte Verse auf italienisch. Ein heiteres, gelöstes Fest. Ulla Berkéwicz hat sich dies alles aufs schönste ausgedacht, Burgel Zeeh hat es wie immer perfekt organisiert.
Rückfahrt. Erstmals erlebe ich den Canale Grande bei Nacht. Alles erscheint mir wie ein Traum.
28. September
Am Morgen ein Konzert zu Ehren von Siegfried Unseld. Danach zu Fuß an die Anlegestelle, an der wir in kleinen Gruppen wartend stehen. Ich höre, wie jemand von Unselds Sturz von der Treppe und seinem Armbruch an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag hier in Venedig erzählt. Erinnere mich, unsere Begegnung auf der Messe in den dramatischen Herbsttagen 1989, da trug er den Arm noch verbunden, hatte Schmerzen.
Zehn Jahre sind vergangen. Die DDR stürzte in den Abgrund, wir fanden uns in einem neuen Staat, die Veränderung fast aller Alltagskoordinaten. Für meine Söhne und mich verging dieses Jahrzehnt wie im Fluge. Freiheit: Beglückung und Verstörung. Dieser andere Staat war auch kein Gewand , das sich an den Leib des Volkes schmiegt , wie Georg Büchner ihn sich erträumte. Aber: das heitere Überschreiten der Landesgrenzen
dem hohen Norden zu. Das Ringen der Söhne um ihr berufliches Fortkommen. Und für mich, nun seit
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