Wohin sind wir unterwegs
von ihr, suchte ich zuerst nach einer ganz bestimmten Passage, die ich am deutlichsten in Erinnerung hatte, weil sie mit einer ebenso erstaunlichen wie einleuchtenden Metapher einen Konflikt beschreibt, den Christa Wolf scharf empfunden haben muß und der sie sowohl intellektuell als auch mental, ja physisch, vermutlich bis über die Schmerzgrenze hinweg immer wieder beschäftigt hat, in jedem ihrer Werke. Jene Textstelle, ich werde sie Ihnen gleich vorlesen, wirkt auf mich wie die Initiationsbeschreibung dieses Konflikts: etwas Gutes wollen für andere, deren Bedürfnisse man aber falsch eingeschätzt hat, und, dies erkennend, in enttäuschten Zorn geraten, der einen dazu bringt, das in bester Absicht Geschaffene zu vernichten.
»Nelly hockt auf dem Sandberg. Sie hat sich eine Streichholzschachtel voller Marienkäfer gefangen. Sie hat den Marienkäfern eine Stadt aus Sand gebaut, Straßen, Plätze, Bäume aus Schachtelhalmen. Die Marienkäfer haben ihre Dankbarkeit für diese schöne Stadt zu beweisen, indem sie sich strikt an die vorgeschriebenen Straßen und Wege halten. Das tun sie nicht. Sie rennen kreuz und quer durchs Gelände und müssen bestraft werden. Nelly hat unterirdische Sandhöhlen gebaut, das sind die Gefängnisse für die Marienkäfer. Da habt ihr’s, sagt Nelly in ihrem großen gerechten Zorn, als sie die Marienkäfer unter die Erde gebracht hat, da habt ihr’s, da habt ihr’s. Ihr Bösen, Verfluchten, Ungehorsamen. Einzelne Marienkäfer, die ja übrigens zu Nellys Lieblingstieren gehören, welche sich aus der Erde herausarbeiten, schüttet sie heftig und hastig mit losem Sand zu, wieder und wieder, sooft die versuchen, sich zu befreien. Euch werd ich’s zeigen.
Es wäre kein Grund, zu heulen, da sie ja Lust empfindet.«
Nelly tötet keinen der undankbaren Marienkäfer, aber indem sie, hektisch Sand auf sie schüttend, die Tierchen bestraft, zerstört sie die Stadt, die sie ihnenhat schenken wollen, und ist froh, daß sie den Schauplatz dieses verwirrenden Dramas erst einmal verlassen darf, weil ihre Mutter sie zum Essen hereinruft.
GÜNTER GRASS
Was bleibt
Christa Wolf gehörte einer Generation an, zu der auch ich mich zähle. Die Zeit des Nationalsozialismus und die späte, zu späte Erkenntnis aller im Verlauf von nur zwölf Jahren von Deutschen begangenen Verbrechen haben uns geprägt. Schreiben verlangt seitdem, aus Spuren zu lesen. Dem entspricht eines ihrer Bücher unter dem Titel »Kindheitsmuster«, denn ideologische Wechselbäder bestimmten, nach der braunen Diktatur die Doktrinen des Stalinismus, ihre jungen Jahre. Gläubig eingeschlagene Irrwege, aufkommender Zweifel und Widerstand gegen verordnete Zwänge, mehr noch, die Einsicht in eigene Teilhabe innerhalb eines die sozialistische Utopie nivellierenden Systems, sind bezeichnend für ihren im Verlauf von fünf Jahrzehnten bewiesenen literarischen Rang: vom »Geteilten Himmel« bis zur letzten Reise, die uns in die »Stadt der Engel« führt, Buch nach Buch; Bücher, die geblieben sind.
Eines davon herausgegriffen: »Was bleibt« ist der Titel einer Erzählung, die im Juni 1990 im Aufbau-Verlag und im Luchterhand Verlag erschien. Noch bevor sie den Lesern in Ost und West vorlag, schlugen – die Sperrfrist mißachtend – einige jener westdeutschen Journalisten zu, die als Sieger der Geschichtemeinten, die Stunde der Abrechnung habe geschlagen. Sie, Christa Wolf, die vormals gefeierte und ob ihrer Widerständigkeit hochgelobte Autorin, sie, die Büchner-Preisträgerin von 1980, sie, die zwei Jahre später bei ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung von Studenten Umlagerte, sie, deren Stimme im einen wie anderen Deutschland gehört worden war, wurde nun – kaum war die Mauer zwischen den feindlichen Lagern gefallen – mit nicht enden wollendem Wortschwall niedergemacht. Es war, als wollte man eine öffentliche Hinrichtung zelebrieren. Tag nach Tag, am 1. und 2. Juni, machten die Wochenzeitung »Die Zeit« und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« den Anfang. Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher gaben den Ton an, der von einem Rudel Journalisten aufgenommen und zum Wolfsgeheul gesteigert wurde. Die wenigen Gegenstimmen kamen dagegen nicht an.
Was gab Anlaß für so viel Niedertracht und Vernichtungswillen? Ein im Sommer des Jahres 1979 geschriebener Text, der Zweifel und Selbstzweifel sowie die Bespitzelung und offenkundige Überwachung des Ehepaares Wolf durch den Staatssicherheitsdienst der DDR zum Thema hatte. Aus sicherem
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