Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Zwischenkriegszeit. Annelore trägt ein Matrosenkleid und eine Perlenkette, die Zöpfe sind mit weißen Maschen gebunden. Mit den zwei Ringen und dem Armband wirkt sie älter als ihre neun Jahre, das Matrosenkleid lässt das Porträt aber als Inbild der Kindheit wirken. Traurig, ernst und missmutig starrt sie in die Kamera, eine Augenbraue leicht nach oben gezogen, als wolle sie den Betrachter provozieren. Warum muss ich hier sein, scheint sie zu fragen. Warum zwingst du mich, das zu tun?
Ein weiteres Fleischmann-Foto, das bei einer Aufnahmesitzung 1931 entstand, stellt eine wieder andere Seite Annelores dar. Es zeigt sie in ihrem ersten Theaterkleid, einem ärmellosen Satinkleid, die Zöpfe sind mit der Brennschere gelockt und in Rollen gedreht, sie hat Lippenstift aufgelegt und trägt wieder die Perlenkette. Das Kleid passt nicht ganz, es war aus einem alten Kleid Käthes geschneidert, doch das Bild lässt trotzdem erkennen, in welch reicher und erlesener Umgebung sie aufwuchs. Sie sieht aus wie ein Filmsternchen.
Annelore in ihrem ersten Theaterkleid. 1931.
Auf meine Frage hin konnte sich Anne nicht an Trude Fleischmann erinnern. Sie war zu oft fotografiert worden, als dass eine Porträtsitzung ihr hätte im Gedächtnis haften sollen. Doch die Kleider waren eine andere Sache, da sie ihr als Mädchen so viel Ärger und Verlegenheit bereitet hatten. Noch am Ende ihres Lebens konnte sie sich bei den meisten Kleidern, die sie auf den Kinderfotos trug, daran erinnern, von wem sie sie bekommen und wann man sie gezwungen hatte, sie zu tragen. Und sie konnte den Sepia- oder Schwarzweißbildern Farben hinzufügen, sich erinnern, dass das Theaterkleid blau mit roten Blumen gewesen war, aus einem alten Kleid Käthes geschneidert, und zum Matrosenkleid hatten eine dazupassende blaue Kappe und eine weiße Bluse gehört. Von der Perlenkette wusste sie sogar noch mehr, die war für sie ein Beispiel, wie übermäßig verwöhnt sie als Kind worden war. Sie hatte die Perlen zu einem Weihnachtsfest bekommen, an dem sie beschlossen hatte, die Geschenke nicht alle auf einmal zu öffnen, sondern Vorfreude und Aufregung zu verlängern und jeden Tag eines aufzumachen. Sie begann am Heiligen Abend und hörte am 9. Februar auf. Die Perlen waren im letzten Päckchen. Bis dahin langweilte sie sich bereits – und es gab schon wieder massenhaft Geschenke, denn der 9. Februar war ihr Geburtstag.
Es war das Weihnachtsfest 1929 oder 1930, die ersten Jahre der Weltwirtschaftskrise. Hermines Finanzen müssen betroffen gewesen sein, die Turbulenzen waren zu stark. Doch so wie das Familienvermögen die Inflation der Kriegsjahre und die Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre überlebt hatte, so überlebte es auch die Krisen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre. Hermine behielt die Häuser in der Wohllebengasse und in Altaussee. Die Familienunternehmen – Johann Timmels Witwe, die Graetzin-Licht-Gesellschaft und Hamburger und Co. – waren weiterhin aktiv, ebenso wie etliche andere Firmen, an denen Hermine Anteile hielt. Obwohl ihre Aktien der Wiener Werkstätte wertlos wurden, als diese infolge der Wirtschaftskrise 1932 schließen musste, hatte dieses Verschwinden für sie eher emotionale als finanzielle Bedeutung. Sie war zwar eine von bloß drei verbliebenen Aktionärinnen der Werkstätte gewesen, hatte aber nur ein Prozent besessen.
Annelore war zu jung, um viel davon zu spüren, wie die Erwachsenen auf die Krise reagierten. Sie erinnerte sich bloß, dass Erni und Mizzi sich an einer Aktion beteiligten, wobei wohlhabende Leute einmal pro Woche ein hungriges Kind zum Mittagessen einluden, während Hermine einfach dem Bettler an ihrer Straßenecke eine Münze hinwarf. So wie Gretl durch den Ersten Weltkrieg gegangen und immer mehr Geschenke bekommen hatte, so war es nun bei Annelore in der Weltwirtschaftskrise. Die meisten Sachen waren neu, man hatte sie gekauft, obwohl die wirtschaftlichen Zustände schlecht waren. Der Schmuck aber, darunter die Perlenkette, war alt, Moriz und Hermine hatten ihn Anfang der 1900er Jahre für Gretl, Käthe und Lene erworben.
Die Übertragung dieses Schmucks von einer Generation auf die nächste hatte sich Gretl bereits als Mädchen vorgenommen, wobei sie höchstwahrscheinlich Moriz und Hermine imitierte. Als sie an ihrem elften Geburtstag ein außerordentlich schönes Armband geschenkt bekam, schrieb sie, sie freue sich darauf, es eines Tages an eine ihrer Töchter weitergeben zu können. Als
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