Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Annes Erinnerung war ihre Kindheit abnormal, weil sie so isoliert war; das rührte nicht nur daher, dass sie ein Einzelkind und die Einzige ihrer Generation bei den Gallias beziehungsweise Herschmanns war, sondern auch daher, dass sie beinahe keine gleichaltrigen Freundinnen besaß. Dass sie »so gut wie ausschließlich erwachsene Gesellschaft« hatte, wie sie dachte, dafür machte sie Hermine verantwortlich. Sie entsann sich, dass sie einmal eine Klassenkameradin in die Wohllebengasse eingeladen hatte; Hermine war entsetzt zu hören, dass das Mädchen unehelich war, verbot Annelore, es noch einmal zu treffen, und begann alle Einladungen zu kontrollieren, die ihre Enkelin aussprechen oder annehmen wollte. Nur zwei Mädchen entsprachen Hermines Ansprüchen.
Annes Tagebucheinträge aus Wien passen zu diesen Erinnerungen. In sieben Monaten besuchte sie bloß zweimal andere Mädchen, nur eines kam in die Wohllebengasse auf Besuch. Die Einträge aus Altaussee aber konnten verschiedener nicht sein. Sie zeigten, dass Annelore im Sommer 1932 ganz und gar nicht allein war, sondern fast jeden Tag mit verschiedenen Mädchen spielte. Sie schwamm im See, lernte Fahrrad fahren, spielte Pingpong und Tennis und kochte mit ihnen gemeinsam. Manchmal kamen sie in die Villa Gallia, manchmal ging sie mit in ihre Häuser. Sie beschrieb sich zwar gelegentlich als gelangweilt, doch wenn sie glücklich war, wurde das meist deutlich. »Ich lernte Radfahren«, berichtete sie an einem Tag, »es war sehr lustig«, an einem anderen.
Viele Kindheitserinnerungen Annes hatten mit dem Grab auf dem Hietzinger Friedhof zu tun, wo Moriz und Lene lagen. Ihrer Erinnerung nach musste sie jeden Sonntag hingehen, dazu an religiösen Feiertagen wie Allerheiligen und Allerseelen. Manchmal ging sie mit Käthe, meist aber begleitete sie Hermine, die aus diesen Ausgängen gesellschaftliche Anlässe mit einem Anflug von Konkurrenz machte. Während sie im Friedhof herumspazierten, damit Hermine Bekannte treffen und sich vergewissern konnte, dass das Gallia-Grab mit den schönsten Blumen geschmückt war, nahmen Annelores Langeweile und Frustration immer mehr zu. Sie hasste es, wie diese Besuche ihre Sonntage ruinierten, den einzigen Tag in der Woche, an dem in Österreich schulfrei war.
Ihre Tagebücher allerdings erzählen eine andere Geschichte. Sie berichten von einem Besuch am Grab von Otto Hamburgers erster Frau, Henny, auf dem Grinzinger Friedhof (»auf Großmamas Befehl«); von einem Besuch am Gallia-Grab in Bzenec (dem ehemaligen Bisenz) und einem dritten auf dem Hietzinger Friedhof zu Allerheiligen. Das war es. In den sieben Monaten, in denen Annelore ihr tägliches Leben in Wien festhielt, ging sie nicht ein einziges Mal sonntags auf den Hietzinger Friedhof, schon gar nicht jede Woche. Für die einzige Periode, in der Anne ihre Erinnerungen an einem Nachweis aus jener Zeit überprüfen konnte, stellten sie sich als falsch heraus.
Anne behalf sich damit, dass sie ein Kapitel über das schrieb, was aus den Tagebüchern ersichtlich wurde, während sie den Rest ihrer Geschichte, der auf ihren Erinnerungen beruhte, so ließ, wie er war. Sie schrieb: »Es könnte sein, dass meine Erinnerung mich täuscht, es könnte aber auch sein, dass die sieben Monate, die mein Tagebuch umfasst, untypisch sind. Vielleicht gab es einen Sommer, in dem ich Spielkameraden hatte, aber in den anderen hatte ich keine. Vielleicht kamen die erzwungenen Friedhofsbesuche, an die ich mich erinnere, später.« Ansonsten war sie unerbittlich. Wenn ihre Tagebücher typisch und ihre Erinnerungen trügerisch waren, dann hatte sie bloß diese Erklärung: »Ich war so verwöhnt, dass ich etwas übertrieb, wenn ich es nicht mochte, und so ist es eben in meinem Gedächtnis geblieben.« Einer Bemerkung Mizzis über sie, die auf charakteristische Weise Zuneigung mit Kritik verband, stimmte sie zu: Mizzi habe immer gesagt, schrieb Anne, es sei ein Wunder, dass nach ihrer Erziehung in der Wohllebengasse überhaupt etwas aus ihr geworden sei.
Die meisten ihrer Erinnerungen waren unglücklich. Das begann mit Gretls 29. Geburtstag im Sommer 1925, als sie und Gretl wie üblich in Altaussee waren. Annelore, der man bereits die Grundbegriffe der Etikette beigebracht hatte und die nicht nur »Küss die Hand« sagen, sondern das auch noch jeden Morgen und Abend tun musste, ebenso wie Gretl als Mädchen, ging hinaus zum Spielen, kletterte auf einen Zaun und zerriss sich das rosa Kleid, das sie eben von
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