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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Hermine geschenkt bekommen hatte. »Das Gezeter über dieses furchtbare Vergehen war derart, dass es mich sechzig Jahre lang verfolgt hat«, schrieb Anne. »Ich war erst drei, doch man hatte mich herausgeputzt und erwartete von mir, dass ich mich wie eine Dame benahm.«
    Hermine kontrollierte sie auf vielfältige Weise; so verbot sie ihr, Bananen zu essen, weil dadurch angeblich Kinderlähmung verbreitet wurde, verlangte von ihr, in der Unterstufe des Gymnasiums die Zöpfe vor den Ohren statt dahinter zu tragen, wie es die Mode verlangte, und bestand darauf, dass sie sich in Rosa oder Rot kleidete, weshalb sie denn auch Weiß und Blau bevorzugte. Gretl, die voller Ängste war, nachdem Annelore als Einjährige beinahe an einem Darmverschluss gestorben wäre, wies sie an, während der Schulzeit so oft wie möglich auf die Toilette zu gehen und Papier über den Sitz zu breiten, um Infektionen zu vermeiden. Käthe war großzügiger; manchmal kaufte sie Annelore in Altaussee eine Banane, allerdings nur, wenn Hermine nicht dabei war.
    Besonders ihren Eislaufdress hasste Annelore, denn auf dem größten Wiener Eislaufplatz im Freien, dem Eislaufverein, wollte sie unbedingt schick aussehen. Sie wollte ihre deutsche Lehrerin Ilse Hornung beeindrucken, eine der besten Eiskunstläuferinnen zu einer Zeit, als die Österreicher auf ihre Leistungen auf dem Eis immens stolz waren. Annelore schwärmte für Frau Hornung und schrieb wiederholt über die »süßen« Kleider ihres Idols, zum Beispiel sehr kurze Hosen und jugoslawische Opanken oder enge Hosen und einen sehr kurzen Pullover, der ihre Taille frei ließ. Annelore sehnte sich nach neuen weißen Schlittschuhen und einem Eislaufkostüm mit einem flatternden Tellerrock. Stattdessen musste sie sich, obwohl immer teuer ausgestattet, mit Gretls braunen Schlittschuhen und einem Samtkleid von Käthe abfinden.
    In Annes Erinnerung war das einzige Kleidungsstück, das sie gegen Hermines Einwände bekam, ein Paar weite Tennis-Shorts, eine Art Hosenrock. Als die Amerikanerin Alice Marble sie 1932 in der internationalen Tennisszene einführte, waren sie zunächst eine Sensation, binnen eines Jahres aber kaum mehr der Rede wert. In diesem Sommer und im Jahr darauf trug Annelore zum Tennis immer noch einen knielangen Rock, 1935 aber bekam sie die Shorts von Käthe geschenkt; diese nutzte das Privileg, Hermines Liebling zu sein, um sich selbst zu Annelores Favoritin zu machen. Hätte Gretl ihr solche Shorts kaufen wollen, hätte Hermine dem sicher einen Riegel vorgeschoben, obwohl Gretl Annelores Mutter war.

Die dreijährige Annelore. 1925.
    Dieser Wettkampf zwischen Gretl und Käthe gehörte so sehr zu Annes Leben, dass sie ihn beim Schreiben ihrer Geschichte für selbstverständlich nahm, sich weder über seine Sonderbarkeit Gedanken machte noch herauszufinden versuchte, wie es dazu gekommen war. Die Antwort lag höchstwahrscheinlich nicht nur daran, dass Käthe keine Kinder hatte, sondern auch in Lenes Tod. Käthe suchte einen Ersatz für ihren Zwilling, richtete den Blick auf Annelore und ergriff, ob wissentlich oder nicht, jede Gelegenheit, Gretl zu verdrängen. Ein besonderes Beispiel war das Theater, denn Annelore wurde ein von Käthe so bezeichneter »Theaternarr«. Gretl hatte Annelore kurz nach ihrem zehnten Geburtstag 1932 zu ihrer ersten Abendvorstellung mitgenommen, und bald nutzte Käthe Weihnachten, um noch öfter mit ihr ins Theater zu gehen; 1936 allerdings stach Gretl Käthe aus, indem sie Annelore versprach, sie fünfzehnmal ins Burgtheater mitzunehmen; damit sollte Käthe sie nicht mehr in Annelores Zuneigung übertrumpfen.
    Die frühesten Aufnahmen Annelores lassen eine ganz andere Kindheit vermuten. Das Wiener Fotoatelier Jobst, das bis zu ihrem vierten Lebensjahr jedes Jahr zwei oder drei Porträts von ihr anfertigte, schuf unwiderstehliche Bilder eines strahlend glücklichen Mädchens. Eine Serie aus dem Jahr 1925 mit der dreijährigen Annelore in dem rosa Kleidchen, das sie bald darauf zerreißen sollte, ist besonders bemerkenswert. In Annes Erinnerung verkörperte dieses Kleid den Beginn ihrer allzu überwachten Kindheit, Jobst aber zeigte sie selbstsicher, aufmerksam, begeistert und voller Staunen über die Welt.

Annelore in Matrosenkleid und Perlenkette. 1931.
    Ein Porträt aus dem Jahr 1931 kommt ihrem späteren Selbstbild viel näher. Es wurde von Trude Fleischmann aufgenommen, sie war die berühmteste Fotografin der Wiener Prominenz in der

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