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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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war auch dabei, als die ganze Familie einen Fiaker mietete und in den Prater fuhr; doch zu ihrer Enttäuschung konnte sie wegen ihres jüdischen Glaubens der Zeremonie im Stephansdom nicht beiwohnen. Ihrer Erinnerung nach wünschte sie sich damals, selbst gefirmt zu werden.
    Hermine hätte Annelore trösten und ihr erklären können, dass sie sich damals als jüdisches Mädchen in Freudenthal ebenfalls zum Katholizismus hingezogen gefühlt hatte und an der Fronleichnamsprozession teilnehmen wollte, ihre Eltern aber hatten es verboten. Stattdessen brachte sie es zustande, dass sich Annelore noch mehr ausgeschlossen fühlte. Während sie der Prozession zuschauten, die am Fronleichnamstag durch den vierten Bezirk zog, meinte Hermine zu Annelore, wie wunderbar es wäre, könnte sie daran teilnehmen, ein Kissen mit der Krone darauf tragen oder eines der am Kissen befestigten Bänder halten. Wieder eine Art, ihr beizubringen, dass sie die falsche Religion hatte.
    Hermine führte ihr Gästebuch bis Anfang 1936. Am Neujahrstag hatte sie Besuch, dann wieder am 5., 7., 10. und 14. Jänner; sieben Frauen kamen zu zwei Bridgerunden, dazu gab es wie üblich Tee, Sandwiches und Käsegebäck. Es war Hermines letzte Bridgegesellschaft. Eine Woche später lag sie im Krankenhaus und ließ sich die Gallenblase entfernen. Obwohl die Ärzte die Operation als gelungen bezeichnet hatten, starb sie am 6. Februar im Alter von 65 Jahren an einem Blutgerinnsel und wurde am 8. Februar – an dem die Gallias sonst Ernis 41. Geburtstag gefeiert hätten – begraben. Einen Tag später wurde Annelore vierzehn Jahre alt.
    Sie hatte viele Erinnerungen an diese Ereignisse. Sie entsann sich, wie man Hermine auf einer Trage aus der Wohllebengasse gebracht hatte, vom Schlafzimmer hinunter in die Vorhalle, und wie sie gedacht hatte, sie werde nie mehr zurückkehren. Sie wusste noch, welche Angst sie ausstand, als man sie nach Hermines Tod ins Krankenhaus mitnahm und sie zum letzten Mal ihre Hand küssen musste, und dass man ihr Hermine in einem Sarg mit einem Fenster am einen Ende gezeigt hatte, sodass das Gesicht zu sehen war. Sie erinnerte sich, dass Erni, Gretl und Käthe die endlose Begräbnisprozession auf dem Hietzinger Friedhof anführten; sie folgte mit Mizzi und Hermines drei Brüdern Otto, Guido und Paul. Sie erinnerte sich, dass sie einen schwarzen Hut und einen schwarzen Flor am Ärmel getragen hatte, Gretl hatte sie für das Begräbnis gekauft. Sie erinnerte sich, dass sie bitterlich geweint hatte, obwohl sie eigentlich gar nicht richtig traurig gewesen war. Und sie erinnerte sich auch, dass Hermine ihr zwar üblicherweise Dinge geschenkt hatte, die sie nicht mochte, und sie gezwungen hatte, sie zu verwenden, ärgerlich und verlegen, doch in diesem Jahr hatte sie zwei bestickte Kissenhüllen bekommen, Hermine hatte sie gekauft, bevor sie krank wurde, und die waren genau das, was Annelore wollte.
    Hermine hinterließ Käthe den Großteil ihrer Aktien und Bankguthaben sowie alle Anteile an der Graetzin-Licht-Gesellschaft, da diese nicht wie Erni einen Teil der Fabrik geerbt oder wie Gretl ein Heiratsgut erhalten hatte. Sie hatte auch festgelegt, wie ihr Silber aufgeteilt werden sollte. Der Rest des Vermögens ging zu gleichen Teilen an Erni, Gretl und Käthe, wobei es ihnen überlassen blieb, was damit zu tun sei. Sie einigten sich, zu gleichen Teilen Eigentümer des Hauses in der Wohllebengasse und der Villa Gallia zu bleiben, während der Rest aufgeteilt wurde, ein Vorgang, der manchmal kompliziert, gelegentlich aber auch einfach verlief. Eines der spektakulärsten Schmuckstücke Hermines – eine Kette mit riesigen Adriaperlen – war so lang, dass Gretl, Käthe und Mizzi sie in drei Stücke teilen und je eines davon tragen konnten.
    Wie ihre Töchter leben sollten, bestimmte Hermine durch eine Klausel, die ebenso kontrollierend wie hellsichtig war. Sie überließ es nicht Gretl und Käthe, herauszufinden, dass sie zu schlecht miteinander auskamen, um zusammenzuleben, sondern verfügte, dass sie in separaten Wohnungen leben sollten, eine Anweisung, der sie Folge leisteten. Die neuen Wohnungen befanden sich beide im dritten Bezirk, einer bürgerlichen Gegend, weniger angesehen als der vierte. Gretl mietete eine Vorkriegswohnung an der Landstraßer Hauptstraße, der wichtigsten Einkaufsstraße im Bezirk, Käthe wählte einen modernistischen, in seiner Strenge beinahe stalinistisch anmutenden Wohnblock in der Rechten Bahngasse mit Blick auf

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