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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Schmerz ihr Religionslehrer, was geplant war, und sprach sich dagegen aus, dass seine Schülerinnen ein christliches Fest feierten. Dieser »große Krach« bedeutete, dass sie nie wieder an einem solchen Spiel teilnahm.
    Zu ihren Lieblingsbüchern gehörte Felix Dahns »Ein Kampf um Rom«, einer der einflussreichsten deutschen Romane, der Deutsche und Juden einander gegenüberstellte. Die Deutschen in Dahns Buch sind schön, blond und blauäugig, tugendhaft und tapfer, die Juden hingegen meist hässlich, unzuverlässig, mehr oder minder verdorben, ausbeuterisch und unfähig zu höherer Geistigkeit. Als Anne das Buch in Australien noch einmal las, fiel ihr diese »sehr germanische Sichtweise« auf, und sie bezeichnete es als »Wagner ohne Musik«. Zudem erkannte sie, als Mädchen nicht durchschaut zu haben, dass es ein politisches Traktat war, das die germanische Rasse mythologisieren und die Abneigung gegen Juden anstacheln sollte. »Ich habe nicht wirklich verstanden, was ich da las«, bemerkte sie.
    Annelore mochte christliche Feste, wegen der Geschenke, die sie erhielt, wegen des besonderen Essens, das es gab, und weil sie sich eher als Teilnehmerin denn als Ausgeschlossene fühlte. Ein Höhepunkt war ihr Namenstag im Juli, ein anderer der Altausseer Kirtag im September. Das zauberischste war Weihnachten, das für Annelore jedes Jahr mit einem oder mehreren Besuchen auf dem Christkindlmarkt begann, wo an den Buden Spielsachen, Weihnachtsschmuck und geröstete Kastanien verkauft wurden. Dann sah sie zu, während Hermine das Aufstellen eines reich geschmückten Baums in der Familienwohnung beaufsichtigte und Geschenke für jedes Familienmitglied auf eigenen Tischen aufgetürmt wurden. Wenn der Heilige Abend näher rückte, wartete Annelore ungeduldig, bis die Kerzen auf dem Baum angezündet wurden, denn dann läutete Hermine ein Glöckchen, das bedeutete den Beginn der Bescherung, und nun durfte Annelore ihre Päckchen aufmachen. In einem Jahr hatte sie sogar eine Vision vom Christkind, wie es mit einem Christbaum in der Hand über das Dach des Hauses gegenüber in Richtung Wohllebengasse lief.
    Ihre erste Fahrt zu einer bedeutenden katholischen Andachtsstätte unternahm sie mit Ida. Diese hatte im Laufe ihrer Ehe denselben religiösen Weg eingeschlagen wie Adolf: Sie war zunächst vom Judentum zum Katholizismus konvertiert, dann wieder zum Judentum, nur um unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes wieder zum Christentum zurückzukehren. Vier Jahre später, als Ida in Mariazell, dem wichtigsten österreichischen Wallfahrtsort, den Beistand der Jungfrau Maria erflehte, wurde sie von Gretl und Annelore begleitet. Dort sahen sie sich eine von einem einheimischen Handwerker Ende des 19. Jahrhunderts gebaute mechanische Krippe an. Diese Krippe, die das Leben Christi von der Verkündigung bis zur Himmelfahrt in Dutzenden Szenen mit Hunderten beweglichen Figuren darstellte, beschäftigte die Phantasie der siebenjährigen Annelore sehr. Außerordentlich war die Darstellung der Kreuzigung: Aus den Wunden Christi tropfte eine rote Flüssigkeit, diese wurde am Fuß des Kreuzes von einer Frau mit einem offenen Buch aufgefangen, das sie zuklappte, wenn das Blut hineingeflossen war.
    In Wien hatten viele jüdische Kinder christliche Gouvernanten, die sie manchmal zu christlichen Veranstaltungen wie dem Christkindlmarkt und manchmal sogar in die Kirche mitnahmen; Annelores Berührungspunkte mit dem Christentum aber waren ungewöhnlich intensiv und übertrafen diejenigen mit dem Judentum bei weitem. Paul Herschmann ging nie in die Synagoge, Hermine aber besuchte manchmal die Kirche und ließ an den Jahrestagen ihres Todes Messen für Moriz und Lene lesen. Annelores Gouvernanten, alle Christinnen, schrieben für sie christliche Geschichten und zeichneten Bilder mit christlichen Themen. 1931 kritzelte die neunjährige Annelore Kreuze auf den Umschlag ihres Zeichenheftes und füllte die Seiten mit noch mehr christlichen Darstellungen, darunter eine Abbildung von zwei weiblichen Christkindern.
    Doch es gab scharfe Grenzen dafür, welche katholischen Erfahrungen sie machen konnte; das zeigte sich 1933 bei der Firmung ihrer Cousine Lizzi Hamburger, der einzigen Tochter von Hermines jüngstem Bruder Paul und seiner Frau Fely, im Stephansdom. Annelore nahm am Festessen in der Wohllebengasse teil, es gab Kalbseinmachsuppe, Spargel mit Bröseln, Beuschel, Speck, Ente mit heurigen Kartoffeln, Cremetorte, Eis, Sherry, Champagner und Kaffee. Sie

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