Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Geburtstag nicht zusammen waren.
Annelores Urlaub in den österreichischen und italienischen Alpen war ihr bis dahin schönster, besonders die Woche in Hinterbichl, einem winzigen Dörfchen am Ende eines entlegenen Osttiroler Tals. Käthe nahm Annelore dorthin mit, weil Hinterbichl das Sommerquartier der 1924 als Nachfolger der Wiener Hofkapell-Singknaben gegründeten Wiener Sängerknaben war. Binnen weniger Jahre waren die Sängerknaben so berühmt wie ihre Vorgänger und erlangten internationalen Ruf, was sie zum Objekt des Nationalstolzes machte. Nachdem Gretl Annelore zu einem Konzert mitgenommen hatte – eines der Geburtstagsgeschenke während der Weltwirtschaftskrise, ebenso wie die Perlenkette –, wurden die Sängerknaben eine ihrer Leidenschaften. Sie wollte sie »immer wieder sehen und mehr von ihnen erfahren«.
Sie hatte keine Ahnung, dass der Gründungsdirektor des Chors, Rektor Josef Schnitt, ein enragierter Antisemit sein konnte; so schikanierte er etwa wiederholt einen Sängerknaben, Georg Tintner, dessen Eltern nicht lange vor seiner Geburt vom Judentum zum Christentum konvertiert waren. Annes eigene Religion schränkte ihr Engagement ein: Da der Chor eine katholische Institution war und sie Jüdin, konnte Annelore nicht in die alte Hofburgkapelle gehen, wo die Sängerknaben jeden Sonntag die Messe sangen. Doch sonst hörte sie den Chor, wo immer es ging, in Konzerten, in der Oper, im Film. Sie besuchte das Konzert zum zehnjährigen Jubiläum 1934, bei dem ausnahmsweise alle sechzig Sängerknaben gemeinsam auftraten und der Gründer Joseph Schnitt eine Rede hielt. Sie liebte Max Neufelds Film »Singende Jugend«, in dem eine Reihe berühmter Schauspieler mitwirkten, für Annelore aber war es »ein Film mit den Wiener Sängerknaben«. Da ein Gutteil der Handlung im Hotel »Wiener Sängerknaben« in Hinterbichl spielte, wollte sie umso dringender dorthin.
Weil es so anders war als die jährlichen Ferien in Altaussee, fand Annelore Hinterbichl besonders angenehm. Schon ein Sommer in der Villa Gallia brachte allerhand ewig Gleiches, und nach vierzehn Sommern langweilte sie sich, Hinterbichl aber war neu. Ihre Liebe zu den Alpen erwachte, als Käthe und sie einen Tag lang Richtung Großvenediger wanderten und dann die Nacht in einer Berghütte auf beinahe 3000 Meter verbrachten. Ebenso hingerissen war sie von ihrer ersten näheren Begegnung mit den Sängerknaben, die sie immer noch anbetete, obwohl sie alle jünger waren als sie. Sie war entzückt von den Aufführungen, sie sangen zum Beispiel den »Donauwalzer« und den Walzer »Geschichten aus dem Wienerwald« von Johann Strauß und den Chor aus Wagners »Rienzi«.
Mit Gretl fuhr Annelore nach Italien, an viel berühmtere Orte: zuerst mit dem Zug nach Genua, dann per Schiff nach Pisa, Neapel, Pompeji, Palermo, Monreale, Syrakus, Taormina und Venedig. 65 Jahre danach konnte sich Anne allerdings nur noch erinnern, dass sie der Friedhof Staglieno in Genua – keine besondere Sehenswürdigkeit – beeindruckt hatte. Ihre Liste von Enttäuschungen und Abneigungen war lang. Es hatte sie geärgert, dass sie als Fünfzehnjährige in Pompeji die Häuser mit den pornografischen Fresken nicht besichtigen durfte. In Palermo hatte sie sich vor den bekleideten Skeletten in den Katakomben erschreckt und gegruselt. Und sie mochte es nicht, mehr Zeit auf See als an Land zu verbringen, vor allem als Gretl erstaunlicherweise Karten nicht für ein Kreuzfahrtschiff nahm, sondern für einen Frachter, der Pferde transportierte. Italien war ihr zu heiß und stank zu sehr.
Die religiöse Komponente von Annelores Ferien mit Gretl unterschied sich ebenfalls sehr von ihrem Urlaub mit Käthe. Gretl ging mit ihr zwar zu christlichen Andachtsstätten, schenkte aber den jüdischen mehr Aufmerksamkeit als sonst. Dieser jüdische Tourismus war in Eisenstadt, dem Ort mit der ältesten durchgehend jüdischen Gemeinde in Österreich, besonders ausgeprägt; Gretl und Annelore besuchten das Ghetto, den jüdischen Friedhof und das Haus einer prominenten jüdischen Familie. Auf dem Staglieno-Friedhof in Genua ging das weiter; Annelore fotografierte dort einen von einer Menora, dem siebenarmigen jüdischen Leuchter, dominierten Innenraum. Solche touristischen Unternehmungen lassen vermuten, dass ihre Erziehung durch Gretl dem Judentum nicht so feindlich oder fern war, wie Anne sich später erinnerte.
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