Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
eine Bahnlinie.
In der Wohllebengasse überlebte nur das Hoffmannsche Speisezimmer mehr oder minder intakt. Erni, Gretl und Käthe entfernten wahrscheinlich den Beistelltisch mit der Marmorplatte unter dem Fenster, beließen aber den marmornen Wandbrunnen und das eingebaute Marmorbuffet, ebenso den massiven Esstisch mit vierzehn der achtzehn Stühle, da die neuen Mieter das Esszimmer in einen Besprechungsraum umwandeln wollten und den Tisch für ihre Sitzungen brauchten. Die anderen Zimmer wurden alle auseinandergenommen, da Erni, Gretl und Käthe nicht nur die Möbel mitnahmen, sondern, wie es damals üblich war, auch beinahe sonst alles, darunter die Hoffmann-Luster, die meisten Wandbehänge und Tapeten. Erni und Mizzi wählten bloß sechs Stühle, einen Teppich, einen Luster und einiges Silber, als sie in eine neue Wohnung im achten Bezirk zogen, Gretl und Käthe teilten sich den Rest, da sie keine eigenen Möbel besaßen.
Auch Hermines Bilder teilten die Geschwister unter sich auf. Es gab drei Porträts von Familienmitgliedern, und so nahmen Erni, Gretl und Käthe je eines. Käthe wählte den Klimt, da sie Hermine am nächsten gestanden war, Erni nutzte seine Stellung als einziger Sohn und nahm sich das Andri-Porträt von Moriz, und Gretl bekam das Bild der Gallia-Kinder. Von den anderen Bildern nahmen Gretl und Käthe sich wieder mehr, da Erni und Mizzi ihre eigene Sammlung hatten, obwohl auch sie etliche Bilder erhielten. Ernis wichtigste Errungenschaft war der Klimtsche Buchenwald, Gretl und Käthe teilten die beiden Waldmüller-Porträts, die besonders wertvoll blieben. Gretl nahm das Orlik-Porträt mit der Mahler-Widmung, da sie sich mit Theobald Pollak besonders gut verstanden hatte und am musikalischsten war.
Die neuen Wohnungen waren bei weitem nicht so elegant oder geräumig wie die in der Wohllebengasse. Käthes Schlafzimmer zum Beispiel war so vollgeräumt, dass sie die Tür nicht schließen konnte. Gretl wiederum hatte ein so großes Zimmer, dass sie die fünf schwarz gebeizten Schränke aus dem Raucherzimmer an einer einzigen Wand aufstellen konnte. Zudem konnte sie beinahe alle weiß-goldenen Möbel aus dem Boudoir in einem Raum unterbringen, der auch noch den Steinway-Flügel aufnahm; in dieser der Musik gewidmeten Ecke hängte sie die acht Holzschnitte Carl Molls von den Beethoven-Häusern auf. Käthe behielt die Möbel aus dem Salon mit dem Originalteppich in einem Zimmer, die Möbel aus dem Vorzimmer kamen in einen anderen Raum, zusammen mit einem Luster aus dem Salon und dem Teppich aus dem Esszimmer.
Gretl war begeistert, dem »goldenen Käfig«, wie sie die Wohllebengasse nannte, zu entkommen und nach fünfzehn Jahren wieder ihren eigenen Haushalt führen zu können. Ihre Kindheit empfand sie zwar als sehr glücklich, doch die Zeit in der Landstraßer Hauptstraße mit Annelore betrachtete sie als die beste ihres Lebens. Annelore war entzückt, ein Schlafzimmer für sich zu haben, das sie nach Belieben hätte gestalten können, allerdings zog sie Käthes Wohnung vor und ging hin, wann immer sie konnte. Sie hatte das Gefühl, zwei Wohnungen zu haben und zwei Mütter, die um ihre Liebe und Zuwendung wetteiferten. Das Gästebuch, das Hermine bis zu ihrem Tod führte und Käthe in der Rechten Bahngasse weiterführte, ist besonders aufschlussreich. »Lorle«, wie man Annelores Namen in der Familie meist abkürzte, war die häufigste Besucherin bei Käthe. Manchmal ging sie mit Gretl, einmal oder zweimal pro Woche war sie allein dort. Gelegentlich kam sie zum Frühstück, manchmal zum Mittagessen, gewöhnlich aber zum Abendessen, anschließend blieb sie dann über Nacht. Käthes Freude über solche Anlässe wird deutlich in ihrer häufigsten Formulierung dafür: »Lorle allein.«
1937 wurde die Aufteilung Annelores auf die Schwestern und ihr Konkurrenzkampf um sie besonders fühlbar. Zuerst fuhr Gretl mit ihr nach Eisenstadt, dann ging es mit Käthe nach Budapest. Gretl hatte Annelore schon öfter auf kürzere Ferienreisen mitgenommen, Käthe aber nie, und dieser Ausflug war als Probe gedacht, bei der es sich zeigen sollte, ob die beiden miteinander längere Ferienreisen unternehmen konnten. Käthe und Annelore erlebten schöne Tage, sie speisten in Restaurants an der Donau, lauschten Zigeunermusik und besuchten Verwandte. So teilten Gretl und Käthe den Sommer auf: Es war das erste Mal seit 1922, dass Annelore nicht nach Altaussee fuhr, und das erste Mal, dass Gretl und Annelore an Gretls
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