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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Freitag« des 15. Juli 1927. Auslöser war der Prozess gegen drei Frontkämpfer, rechtsgerichtete Kriegsveteranen, deren Ziel es war, Republik und Demokratie zu untergraben; sie hatten in einem burgenländischen Dorf nahe der ungarischen Grenze einen Sozialisten erschossen. Wie bei vier anderen Prozessen gegen ähnliche Morde mit rechtem Hintergrund konnten die Frontkämpfer auch diesmal der Strafe entgehen; die Geschworenen sprachen sie frei. Diesmal aber veranstalteten Sozialisten und Kommunisten einen Protestmarsch zum Justizpalast in Wien, wo die Polizei das Feuer eröffnete. Die Menge steckte den Palast in Brand und hinderte die Feuerwehren am Löschen, die Polizei schlug zurück, indem sie mindestens 85 Demonstranten tötete und an die tausend verletzte.
    Gretl war zufällig dort, sie geriet in den Tumult und das Blutvergießen, als sie gerade auf dem Weg durch die Stadt war. Ihre Verstrickung in den Blutigen Freitag zeigt, dass politische Ereignisse, politische Gewalt in Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren allgegenwärtig waren, mochte der Reichtum der Gallias sie noch so sehr in einen schützenden Kokon einspinnen. Die Republik war gespalten. Die Bundesregierung wurde immer von den Christlichsozialen geführt, der Partei Karl Luegers und größten rechtsgerichteten Bewegung. Die Sozialdemokraten, führende Partei auf der Linken, bildeten nicht nur die größte politische Gruppe des Landes, sie waren auch prozentuell eine der stärksten sozialistischen Parteien der Welt; bei den Nationalratswahlen 1927 erzielten sie 42 Prozent der Stimmen.
    Hochburg der Sozialdemokraten war Wien, wo nach dem Verlust der Monarchie über ein Drittel der stark geschrumpften österreichischen Bevölkerung lebte. »Das Rote Wien«, wie es bald hieß, war das internationale Schaufenster des demokratischen Sozialismus. Es war berühmt wegen des sozialen Wohnbaus der Stadtregierung, wegen Sozialbeihilfen, wegen seines Gesundheits- und Bildungssystems, Sport und Kultur. Berühmt – und mancherorts berüchtigt – war es auch wegen der Art und Weise, wie die Stadtregierung dieses Programm durch eine Reihe von Vermögens- und Luxussteuern finanzierte; eine davon bezog sich auf Hausangestellte und zwang Hermine, ihre vier ganztags beschäftigten Bediensteten auf drei zu reduzieren.
    Massenveranstaltungen gehörten essenziell zur politischen Kultur der Stadt. Die erste, die Annelore mitverfolgte, war ein 1. Mai; es war der Festtag der Arbeiter gewesen, bis Engelbert Dollfuß mit der Mehrheit von einer Stimme im Parlament österreichischer Bundeskanzler wurde und ein Regime errichtete, das oft als austrofaschistisch bezeichnet wird, obwohl es weniger extrem war als seine deutschen und italienischen Pendants. Dollfuß regierte ab 1933 mittels des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, hinderte das Parlament mit Gewalt am Zusammentreten und führte die Pressezensur ein. Er verbot auch alle Massenversammlungen und Demonstrationen, darunter eben den Festtag der Arbeiter am 1. Mai.
    Diese Maßnahmen waren auch ein Versuch Dollfuß’, die Nationalsozialisten zurückzudrängen, die dominierende Partei auf der äußersten Rechten in Österreich Anfang der dreißiger Jahre, die bei Wahlen zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Stimmen erzielte. Als die Nazis eine Welle des Terrors lostraten, um sein System zu destabilisieren, ließ Dollfuß ihre Parteilokale schließen, Tausende Mitglieder verhaften und die Partei verbieten, allerdings mit wenig Erfolg, da die Nazis einfach im Untergrund weitermachten. Durchschlagskräftiger war Dollfuß, als er die Versammlungen und Aufmärsche der Sozialdemokraten verbot, von ihnen organisierte Streiks stören und brechen, ihre wichtigste Zeitung zensurieren ließ und den bewaffneten Schutzbund verbot. Als die Sozialdemokraten sich im Februar 1934 mit Waffengewalt dagegen wehrten, zerschlugen die Christlichsozialen den schlecht organisierten Aufstand binnen vier Tagen, verboten die Partei und verhafteten zahlreiche ihrer Funktionäre.
    Die Festlichkeiten, denen die zwölfjährige Annelore an diesem 1. Mai beiwohnte, waren von Dollfuß eingeleitet worden, um seine neue Verfassung zu feiern, die der österreichischen Demokratie ein Ende setzte und sein Regime zu legitimieren versuchte. Wie Tausende andere Kinder verbrachte Annelore den Vormittag mit ihrer Schulklasse im Praterstadion, wo sie einem Festzug zusahen, eröffnet von Richard Schmitz, einem Christlichsozialen, den Dollfuß

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