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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Familientradition. Goethe war einer der Lieblingsdichter von Pauls Vater gewesen, »Faust« eines von Pauls Lieblingsstücken. Und er genoss es zu demonstrieren, dass Hermine ihn zwar zwingen konnte, die Dienertreppe zu benützen, dass sie ihn aber nicht ganz und gar kontrollieren konnte. Annelore war entzückt, Hermine zu trotzen. Wie Paul kannte sie bald große Teile des »Faust« auswendig.
    Aus Annelores Tagebuch lässt sich erkennen, dass sie manche der Ausgänge mit Paul genoss. Den Besuch bei der einzigen noch lebenden Schwester seiner Mutter, Elisabeth Schick, beschrieb sie als »sehr nett«, den anderen Familienbesuch als »ganz nett«. Die Besuche bei Gerstner müssen ihr gefallen haben, da sie schöne Erinnerungen an die Köstlichkeiten dort hatte, besonders an die Eiscreme in Form von Früchten und Vögeln. Doch sie berichtete auch, sie sei »sehr froh« gewesen, als Paul anrief und mitteilte, er könne sie an einem Feiertag nicht ausführen, wobei sie »sehr« nachdrücklich unterstrich. Einer der Nachmittage mit ihm war für sie »pfui!«, ein Wort, das sie meist verwendete, wenn ihr etwas ganz und gar nicht gefiel. Nachdem er sie am Christtag abgeholt hatte, bat sie ihn, mit hinaufzukommen, sie wusste aber, dass er das nicht tun würde, und so waren sie bloß eine halbe Stunde beisammen. »I was delighted«, schloss sie.
    Wie Anne sich sechzig Jahre später erinnerte, wollte sie nichts mehr mit Paul zu tun haben. Den Ausschlag gab ihre Entscheidung, Cello zu lernen, inspiriert von ihrem Cousin Hans Troller, ein Enkel von Moriz’ Schwester Fanny und hoffnungsvoller Musiker. Nachdem Hans 1935 einen Teil des Sommers in Altaussee verbracht hatte, schrieb Annelore an Paul und bat um sein Cello, das er seit seiner Jugend nicht mehr gespielt hatte. Paul kam ihrer Bitte nach, schickte es ihr aber genau so, wie es nach den Jahren der Vernachlässigung war, ohne Saiten. Nachdem sie ihm einen wütenden Brief geschrieben hatte, noch nie habe sie ein Geschenk in solchem Zustand erhalten, holte er sie nicht mehr ab, und das war, wie sie meinte, ohnehin ihr Ziel gewesen.
    Annelores Verbindung zum Judentum war immer dürftig. Den einzigen jüdischen Religionsunterricht erhielt sie in der Schule, zweimal pro Woche. In der Wohllebengasse, wo sie von Christinnen umgeben war, praktizierte sie ihren jüdischen Glauben gar nicht. Sie ging nie in die Synagoge. Paul bestand zwar darauf, dass sie an den meisten hohen jüdischen Feiertagen nicht die Schule besuchte, doch sonst ignorierte sie sie. Wie sie 1932 Jom Kippur beging, war wahrscheinlich typisch: Während orthodoxe Juden am Tag davor weit mehr aßen als üblich und dann von Sonnenuntergang bis zum Erscheinen der ersten Sterne am nächsten Tag fasteten, verhielten sich liberale Juden wie an jedem anderen Tag. Nachdem Annelore den Vormittag in der Wohllebengasse verbracht hatte, führte Paul sie zu Gerstner, ihrer Lieblingskonditorei.
    Dass er sich als Jude gebärdete, betrachtete sie später als eine Art Heuchelei, da er kaum oder gar nicht gläubig war. Sie attackierte ihn, weil er sie nicht auf eine Art und Weise ins Judentum eingeführt hatte, dass sie froh hätte sein können, Jüdin zu sein. Doch als Mädchen wollte sie nicht mehr Judentum, sondern weniger. Sie freute sich keineswegs, an den hohen jüdischen Feiertagen zuhause zu bleiben, ganz im Gegenteil: Sie ärgerte sich, nicht mit ihren christlichen Klassenkameradinnen in der Schule zu sein. Mindestens ebenso unglücklich war sie darüber, den jüdischen Religionsunterricht besuchen zu müssen. Als der Lehrer ihr die Grundregeln des Hebräischen beizubringen versuchte, reagierte sie mit schlechtem Benehmen. Pauls Beharren auf ihrem Jüdischsein war ein Hauptgrund, warum sie ihn mehr und mehr ablehnte.
    »Lass dir von Mummy erzählen, wie sie einmal den heiligen Josef und ein andermal einen Engel gespielt hat«, meinte Gretl Anfang der sechziger Jahre zu meinem Bruder Bruce und deutete damit an, Annelore habe beide Rollen verkörpert. Doch deren Erinnerungen sahen anders aus. Sie erinnerte sich bloß an ein einziges Krippenspiel, das ihre Klasse nach ihrem Eintritt in die Mittelschule veranstaltet hatte; wie Gretl besuchte sie die Schule des Frauen-Erwerb-Vereins. Ein anderes jüdisches Mädchen wurde als Josef ausgewählt, während die entzückte Annelore den Engel geben sollte. Gretl unterstützte sie und steuerte eines ihrer schönsten Nachthemden als Kostüm bei. Dann entdeckte zu Annelores bitterem

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